Razem heißt gemeinsam

Deutsch-polnische Seniorenakademie leistet Beitrag zu Freundschaft und Frieden

Er war jung. Er wusste es nicht besser. Später war er schlauer. Aber am 1. September 1939 freute sich Henryk Raczkowski, als er nach den Ferien wieder zur Schule kam. Denn der Unterricht fiel aus. Es herrschte Krieg. Hitlerdeutschland hatte sein Heimatland Polen überfallen. Welches Leid Krieg bedeutet, hat er dann nur zu gut erfahren müssen. Nachdem Partisanen einen deutschen Beamten töteten, übte die Gestapo grausame Vergeltung und erschoss wahllos 50 Zivilisten, darunter Raczkowskis Vater, Bruder und Schwester. Nur wenige deutsche Begriffe kannte der Junge damals: »Hände hoch«, »stehen bleiben«.

Erst fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hörte er die deutsche Sprache wieder - aus dem Munde des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck (SED), der in Krakau zu polnischen Bauarbeitern sprach und etwas von Brüderlichkeit erzählte. Raczkowski rief damals dazwischen, was einst der Dichter Mikołaj Rej (1505-1569) geschrieben hatte: »Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen nie ein Bruder sein.« Erst später als Matrose beschloss Raczkowski, Deutsch zu lernen - und schließlich begegnete er als Kapitän »nach 20 Jahren Vorurteilen und antideutscher Propaganda den Deutschen zum ersten Mal als Mensch«, wie er selbst es formulierte. Er gewann die Überzeugung, dass aus Feinden Freunde werden können und hat einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet.

Raczkowski gründete im Jahr 2000 mit Willi Przybylski die deutsch-polnische Seniorenakademie. Forthin organisierte diese Vorlesungen zu den verschiedensten Themen mit simultaner Übersetzung - immer im Wechsel an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und am Collegium Polonicum in der Schwesterstadt Słubice. Es gibt auch Lesungen, Konzerte und Exkursionen.

Im Jahr 2010, da war er bereits 79 Jahre alt, gab Raczkowski das Amt des Vorsitzenden der Seniorenakademie ab. 2013 ist der Mann mit dem weißen Rauschebart gestorben. Doch sein Projekt lebte weiter. In der Regel erschienen 30 Interessierte zu den einzelnen Vorlesungen, es konnten aber auch einmal 200 sein, wenn beispielsweise Universitätspräsidentin Gesine Schwan über das deutsch-polnische Verhältnis sprach. Eine Altersgrenze gibt es weder nach unten noch nach oben. Mit der Corona-Pandemie sind die Veranstaltungen seltener geworden und haben zuweilen nur noch online stattgefunden. Wenn es nur endlich normal weitergehen könnte, hoffen die Beteiligten.

2020 konnte das 20-jährige Bestehen der Seniorenakademie wegen der Pandemie nicht richtig gefeiert werden. Damals hatte Erik Rohrbach die Idee, ein Miniaturbuch herauszugeben, um das Engagement zu würdigen. Nun ist es fertig. 300 Exemplare sind gedruckt. Am 8. Februar um 15 Uhr ist im Collegium Polonicum Buchpremiere. Es ist ein kleinformatiges Werk für eine großartige Sache - ein Doppelband mit je einer Ausgabe in deutscher und in polnischer Sprache.

Eine finanzielle Förderung erhielt die Publikation aus dem Kleinprojektefonds der Euroregion Pro Europa Viadrina - mittlere Oder. Der Titel drückt in einem Wort aus, worum es geht: »Gemeinsam« beziehungsweise auf Polnisch »Razem«.

Etliche Gasthörer der Seniorenakademie haben ihre Erinnerungen für dieses berührende Buch beigesteuert. Zum Beispiel Ute Netzel. Sie war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zwei Jahre alt. Heute sagt sie: »Ich kann die schreckliche Geschichte von Deutschland besser ertragen, seitdem ich wundervolle polnische Menschen kennengelernt habe, die mich nicht hassen, weil ich Deutsche bin, sondern mit mir in der Gegenwart leben.«

»Bei den ersten Treffen saßen die Polen getrennt von den Deutschen, aber später spielte das keine Rolle mehr«, schildern Anna Kowalska-Hübner und Sofia Rostolek.

Davon haben auch Frankfurts Oberbürgermeister René Wilke (Linke) und Słubices Bürgermeister Mariusz Olejniczak gehört. Anfangs sei es nicht leicht gewesen für die alten Menschen, sich belastet von der Vergangenheit und zumeist ohne Sprachkenntnisse zu begegnen. Die Politiker wissen aber, dass aus den Hörern der Akademie oft gute Freunde geworden sind, die gemeinsam Ausflüge unternehmen und sich gegenseitig zu Familienfeiern einladen. So sei die »einzige Akademie ihrer Art in Europa« eine »weitere Brücke« geworden, die Deutsche und Polen verbindet, schreiben sie im Vorwort. Nicht nur aus Słubice kommen Rentner zu den Vorlesungen, sondern auch aus dem 20 Kilometer östlich gelegenen Rzepin, wo sie für die Anfahrt den Schulbus zur Verfügung gestellt bekommen.

Die Seniorenakademie hat für ihre Verdienste einen Preis vom Verein für Demokratie und Toleranz erhalten. Außerdem gab es für die Studierenden der ältesten Semester von der Universität Viadrina einen Förderpreis. Der frühere Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt (CDU) wird mit den Worten zitiert: »Zwischenstaatliche Vereinbarungen und Verträge sind natürlich wichtig. Aber das gute freundschaftliche Miteinander fängt auf der kleinsten Ebene an und muss gelebt und von Menschen im Alltag getragen werden.« Das machen die Senioren in Frankfurt (Oder) und Słubice.

Nachgedruckt finden sich in dem Minibuch auch Zeitungsbeiträge, beispielsweise der aus der »Märkischen Oderzeitung« vom September 2010, in dem das Schicksal von Henryk Raczkowski geschildert wird. Er selbst sagte dem Blatt seinerzeit: »Es gibt zu wenig zweisprachige Senioren. Vor allem auf der deutschen Seite.« Sprachkurse gehören nicht umsonst zum Programm der Seniorenakademie, damit endlich mehr Einwohner ihre Nachbarn auf der anderen Seite der Oder verstehen können.

Er habe die wärmste Erinnerung an die deutsche Gruppe, die geduldig zahlreiche Experimente beim Erlernen der furchtbar komplizierten Sprache ertragen habe, erklärt Polnischlehrer Maciej Rokita. Er berichtet schmunzelnd: »Wer das berühmte polnische Gericht Bigosch ausspricht, hat damit zu rechnen, dass ich ihn finde, aufsuche und ... ihr wisst schon: fest an mich drücke.« Denn anders als viele Deutsche glauben, heißt dieser Eintopf korrekt ausgesprochen so, wie man ihn schreibt: einfach Bigos.

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