Im Wagen der Liebe nicht ständig hinten sitzen

»Ironie und Warenfetischismus«: Neue Texte des Philosophen Reinhard Jellen

  • Lesedauer: 3 Min.

Reinhard Jellen, Jahrgang 1967, ist ein linker Philosoph aus München, der auch Soulplatten auflegt. Die Beatles waren für ihn ein Grund, Marxist zu werden: »Wenn die Menschheit es schafft, so etwas Großartiges und Bezauberndes wie eine Musik von der Schönheit und Energie der Beatles zu generieren, muss es ihr auch prinzipiell möglich sein, so etwas Entzückendes und Sinnvolles wie eine klassenlose Gesellschaft zu errichten«, schrieb er in im Vorwort zu seinem 2017 erschienenem Essayband »Pop-Marxismus«, der die Kolummen vereinte, die Jellen unter dem Titel »Für Wissen und Fortschritt« von 2003 bis 2016 in der »Jungen Welt« veröffentlicht hatte.

Nun ist eine weitere Sammlung von Jellens sardonischen Geistesblitzen und textuellen Tiefbohrungen erschienen. Die beste Überschrift lautet: »Auch im Wagen der Liebe muss man nicht ständig hinten sitzen«. Eine Aufruf zum Handeln, den Karl Liebknecht kaum besser formuliert hätte. Überhaupt ist der Berufsnonkonformist Jellen einer der wenigen hiesigen Gegenwartsphilosophen, die ebenso links, lustig wie lehrreich sind – aus diesem Grund lehrt er auch nicht an der Universität. »Denn Kapitalismus is a bitch, und zwischen The Jam, Thomas Mann und Kierkegaard passt immer noch ein Glas Karthäuserlikör«, heißt es im Klappentext zu seinem neuen Buch »Ironie und Warenfetischismus«. Hieraus ein paar Exzerpte zum Weiterlesen und Weiterdenken.

Reinhard Jellen über Glück: »Das Erinnerungsvermögen eines Goldfisches beträgt ungefähr fünf Sekunden. Wenn also ein Goldfisch in seinem Aquarium seine Runden dreht, erblickt er stets eine aufregende, neue Beste-aller-Welten-Welt. Man kann also behaupten, dass im Glücksbegriff des bürgerlichen Individualismus, also in dem, was der Leser des ›Süddeutsche Zeitung-Magazins‹ sein Eigen dünkt, immer auch ein Goldfisch mitschwimmt.«

...über Wien: »In keiner Stadt der Welt spinnen die Leute mit soviel Liebe, Hingabe und Stil wie in Wien. Wahrscheinlich liegt das daran, weil Wien eine Art Atlantis des Geistes ist, die Metropole eines untergegangenen Weltreichs, in deren Straßen und Cafés man junge Marschälle, Minister und Arbeiterführer ohne Aufgabe trifft, die mit profanen und langweiligen Jobs ihre Zeit vertrödeln und wo die Zugehfrau in den Fingerspitzen mehr Geist anzubieten hat als die gesamte Führungsriege der SPD. In Wien dürfte Alexander Kluge vermutlich nicht einmal Taxi fahren, womit nicht gesagt werden soll, dass ihm dies nicht zu gönnen wäre.«

...über Aufstände: »Der neben Lenin, Trotzki und Gramsci hervorragendste Theoretiker des Klassenkampfes ist Aristoteles. Dieser verwirft oder lobt in seiner ›Politik‹ keine politische Herrschaftsweise von vorn herein, sondern untersucht, wie sich unter unterschiedlichen Herrschaftsweisen jeweils die Verfassungen verändern und analysiert wissenschaftlich-unbefangen ihre Vor- und Nachteile.«

...über Kevin Rowland: »Der Mensch ist Resultat und Richtung der Welt, in der er lebt, und wenn Rowland recht hat, vermag er seinen Weg zu gehen. Rowland macht einen stolz auf eine Welt, die noch gar nicht existiert, vielleicht auch nie existieren wird, aber sich alleine aufgrund seiner Musik schon gelohnt hätte. Zu Konzerten sind selbstgeknüpfte Gebetsteppiche mitzubringen.« nd

Reinhard Jellen: Ironie und Warenfetischismus. Schriften zu Philosophie, Kultur, Sex, Drogen und Northern Soul. Mangroven Verlag, 292 S., br., 23 €.

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