»Du konntest Gott atmen hören«

Aus der alten Zeit: Zwei Romane des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah in Neuausgaben

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 6 Min.
Wo sind »die Traumbilder eines verlorenen Ganzen«? Abdulrazak Gurnah im April 2022 in Stockholm.
Wo sind »die Traumbilder eines verlorenen Ganzen«? Abdulrazak Gurnah im April 2022 in Stockholm.

Als Yusuf zwölf Jahre alt ist, muss er sein Elternhaus verlassen, mit dem reichen arabischen Kaufmann namens Onkel Aziz gehen und ihm dienen, um die Schulden seines Vaters abzuarbeiten. Die Geschichte spielt in einer kleinen Stadt in Ostafrika Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Noch leben Araber und muslimische Afrikaner vom Volk der Waswahili friedlich zusammen, aber getrennt durch soziale Rangunterschiede. Dazu kommen Inder meist aus der Oberschicht, die Geldverleiher sind.

Yusuf wächst heran mit dem Glauben an die Geschichten von Dämonen und Geistern; erst später lernt er den Koran lesen. Es ist eine Biografie an der Zeitenwende zwischen der ursprünglichen Landeskultur und dem Einbruch der Moderne, der mit den Kolonialmächten Deutschland und England über das Land kommt. Die Eisenbahn fährt bereits von der Küste zu den wichtigsten Städten Tanganjikas, auch Lastkraftwagen sieht man vereinzelt, aber sonst werden die Waren noch traditionell wie zu Vorzeiten von Trägern befördert. Yusufs eintöniges Leben im Laden weitet sich ins Abenteuerliche, als er, ein 17-Jähriger nun, Teil einer Handelsexpedition von Aziz ins Landesinnere wird.

Wir sind auf der Welt, so das Credo des Kaufmanns Aziz, »um Handel zu treiben«. Doch damit beginnen die Schwierigkeiten erst. Ihre Expedition zieht immer weiter nach Westen, vorbei am riesigen schneebedeckten Berg (dem Kilimandscharo) und den großen Seen, bis hin zu den »Wilden«, denen sie ihre Waren bringen wollen: Stoffe, Äxte und Hacken für die Feldarbeit, auch Jagdgewehre, im Tausch gegen Elfenbein, Gold und andere Kostbarkeiten, die es an der Küste nicht gibt. Da spürt man den alltäglichen Rassismus unter den verschiedenen Ethnien Ostafrikas: Jeder dünkt sich den anderen überlegen, aufgrund der helleren Hautfarbe oder des vollkommeneren Gottes.

Es gibt gewalttätige Auseinandersetzungen, Misstrauen, Hinterhalt, Brutalität. In den abendlichen Gesprächen am Lagerfeuer, an den Raststellen in der Steppe oder im Regenwald, werden die Sagen und Mythen lebendig, die sich die Männer erzählen. Sie tauschen auch Sticheleien und Spötteleien aus. Das alles mit einer leichten, erfrischenden Ironie im Erzählgestus von Abdulrazak Gurnah.

Doch es ist vor allem die Epoche der Kolonisierung Ostafrikas. Deutschland und England konkurrieren um Einflussgebiete, teilen das Land unter sich auf und bauen mit Härte ihre Vormachtstellung aus. Zwischen 1885 und 1918 existiert die Kolonie (verbrämend auch »Schutzgebiet« genannt) in Deutsch-Ostafrika. In die scheinbare Abgeschiedenheit des dörflichen Lebens von Yusuf und seinen Gefährten dringen vereinzelt Berichte von Reisenden über die Deutschen, die Russen, die Engländer: »Ich sage dir, die wissen, was sie wollen. Sie wollen die ganze Welt.«
Es ist das Aufeinanderprallen disparater Kulturen und Werte, das vieles von dem zerstört, was sich jahrhundertelang an der Küste Ostafrikas entwickeln konnte. In der bilderreichen, sinnlichen Sprache des Autors wohnt dem einfachen Lebens ein Zauber inne, wenn Yusuf den blühenden Garten seines Herrn oder das Erlebnis des Berges so intensiv empfindet, dass er denkt: »Du konntest Gott atmen hören.« Das Licht auf dem Berg sei grün, sagt er, ganz anders als irgendein Licht, das er sich jemals vorgestellt habe.

Abdulrazak Gurnah, der 2021 den Literatur-Nobelpreis bekam, wurde 1948 im Sultanat Sansibar geboren, kam mit 20 Jahren als Flüchtling nach England. Heute lebt er als emeritierter Professor für englische und postkoloniale Literatur in Canterbury. Bisher hat er zehn viel beachtete Romane veröffentlicht, war jedoch im deutschen Sprachraum kaum bekannt. Im Original erschien »Paradise« 1994 (auf Deutsch erstmals 1998). Sein Erzählen erschafft für uns ganz neue Einblicke in das Alltagsleben dieser multiethnischen Gemeinschaften, anders nämlich als etwa Tania Blixen, die ebenjene Epoche aus der Perspektive der Weißen erzählt. Yusuf, Mittelpunkt des figurenreichen Romans, spürt den Verlust seiner Wurzeln tief im Inneren, »gequält von Sehnsucht und getröstet von Traumbildern eines verlorenen Ganzen«.

Ein weiterer Roman von Abdulrazak Gurnah wurde nun wiederveröffentlicht: »Ferne Gestade«, 2001 im Original (»By the Sea«) erschienen und 2002 in deutscher Ausgabe. Wie »Das verlorene Paradies« wurde auch diese Übersetzung neu durchgesehen. Der Roman führt in die Gegenwart des Erzählers 1994 in England. Er handelt von Saleh Omar und Latif Mahmud, die beide aus Sansibar nach England emigriert sind, zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen – trotz der Unabhängigkeit Tansanias vom britischen Empire im Jahr 1961.
Ohne Not verlässt niemand seine Heimat für immer, droht damit doch oft auch ein Verlust der eigenen Identität. Aber genau dies geschieht den beiden Hauptfiguren. Unerwartet begegnen sich diese beiden Männer in einem kleinen Küstenort wieder, der eine ein 65-jähriger resignierter Mann, der andere jünger und an der Londoner Universität Literatur lehrend. Beinahe wider Willen zwingen sie einander, sich zu erinnern. Eine schwierige, schmerzbeladene Erinnerung aus dem Schweigen heraus, in das beide über Jahre verfallen waren.

Anhand dieser beiden Protagonisten erzählt Gurnah von der Geschichte seiner Heimat Sansibar. Die Unabhängigkeit Tansanias, dessen Teil die Insel 1964 geworden ist, bringt mitnichten Freiheit und Demokratie für die Einwohner. Korruption und Machtmissbrauch sind an der Tagesordnung. Wenngleich es auch hoffnungsvolle Entwicklungen gibt: Latif Mahmud bekommt als 17-Jähriger ein Stipendium, um in der DDR Medizin zu studieren. In einem kleinen Nest nahe Dresden, untergebracht in einem Wohnheim nur für Afrikaner, um zunächst die Sprache zu erlernen, empfindet er die Wirklichkeit als grau, eng und trostlos. So flieht er schon bald darauf aus der ostdeutschen Provinz und gelangt über Umwege nach England.

Saleh Omar dagegen wird Anfang der 60er Jahre unter falschen Anschuldigungen inhaftiert und schikaniert. Elf Jahre seiner Lebenszeit werden ihm gestohlen, währenddessen sterben seine Frau und seine Tochter. Der Grund für diesen Schlag war ein böser Streit zwischen den Familien der beiden Protagonisten. Wie stets in solchen Fällen geht es um nichts als Besitz, um ein Haus, das sowohl Saleh als auch der Vater von Latif für sich beanspruchen. Damit zerstören sie den Frieden ihrer Familien. Der gealterte Saleh kann zwar später mit einem falschen Pass nach England gelangen, fristet dort jedoch nur noch das »Halbleben eines Fremden«. Auch Latif fühlt sich erschöpft vom Weg, den er sich durch Feindseligkeiten, Verachtung und Hochmut bahnen musste. Glücklich wird im Exil keiner von beiden.

Abdulrazak Gurnah ist ein großartiger Erzähler. Anschaulich beschreibt er das Leben in dem Küstenstädtchen auf der Insel Sansibar, aus dem beide stammen, den Duft nach Weihrauch, den die arabischen Händler von der Golfküste mitbringen und der ihre Kindheit durchzieht. Er erzählt vom hierarchischen Verhältnis zwischen Männern und Frauen, von Liebe und Eifersucht, von den Gebeten in der Moschee und dem jährlichen Monsun, ohne den der Handel im Indischen Ozean nicht denkbar wäre. Er erzählt aber auch, wie Menschen gedemütigt werden, denen man die angebliche Gnade erweist, sie als Emigranten aufzunehmen. Und nicht zuletzt vom Selbsterhaltungswillen, mit dem die beiden Geflüchteten versuchen, ihre Würde zu bewahren – das Einzige, was sie tun können.


Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. A. d. Engl. v. Inge Leipold, Penguin, 333 S., geb., 25 €;
Ders.: Ferne Gestade. A. d. Engl. v. Thomas Brückner, Penguin, 415 S., geb., 26 €.

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