Die Straße, die nicht interessiert

Berlin preist die Karl-Marx-Allee als potenzielles Welterbe an – doch kulturelle Projekte liegen brach

  • Patrick Volknant
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Schnurrbart des Diktators ist verschwunden. Lange Zeit konnte die bronzene Oberlippenbehaarung des abgerissenen Stalin-Denkmals aus DDR-Zeiten, zusammen mit einem Ohr, im »Café Sibylle« an der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain-Kreuzberg bewundert werden. Informationstafeln, Zeichnungen und alte Telefone als Audioguides komplettierten eine kleine, aber sehenswerte Ausstellung über die Geschichte der Straße. Was aber heute im kurzzeitig insolventen Café seit dessen Wiedereröffnung im Jahr 2018 zu sehen ist, hat damit wenig zu tun.

»Von damals sind letztlich nur Ruinen übrig«, sagt Achim Bahr zu »nd«. Der Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Stalinbauten setzt sich für den Erhalt des kulturellen Erbes entlang der Karl-Marx-Allee ein. Seit Jahren wirbt der Historiker und Kurator für eine Wiederbelebung der einstigen Ausstellung im »Café Sibylle« – wenn auch in neuer Form. Momentan finden sich hier nur noch wenige, wild zusammengewürfelte Exponate.

Im August vergangenen Jahres hatte die Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung über eine Neuauflage der Ausstellung diskutiert. Man beschloss, dass bis April 2022 das Bezirksmuseum FHXB über den Stand der Dinge berichten soll. Passiert ist das bis heute nicht.

Über den Umgang mit der Ausstellung im »Café Sibylle« ist Achim Bahr mehr als enttäuscht: »Das Ganze ist ein Armutszeugnis, das sich noch dazu ganz leicht ändern ließe. Berlin wird hier seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht.« Seit Ende vergangenen Jahres bewirbt sich die Hauptstadt mit der Karl-Marx-Allee um den Titel als Unesco-Weltkulturerbe. »Es versteht sich eigentlich von selbst, dass dann auch für einen entsprechenden Zustand vor Ort gesorgt werden muss«, sagt Bahr.

Karl-Marx-Allee geht leer aus

Für das Corbusier-Haus sowie das Hansaviertel, mit denen sich ebenfalls um das Kulturerbe beworben wird, gebe es Räume für Ausstellungen und Informationen, sogar eine Musterwohnung. An der Karl-Marx-Allee, insbesondere im ersten Bauabschnitt der Straße, der Anfang der 50er Jahre erbaut wurde und vom Strausberger Platz bis zur Proskauer Straße reicht, sei hingegen nichts zu finden.

»Die Ausstellung im ›Café Sibylle‹ wird nach wie vor in gedruckten, aber auch in Online-Reiseführern beworben«, sagt Bahr. Er selbst habe immer wieder beobachten können, wie Besucherinnen und Besucher sich ins Café verirrten und sich nach der Ausstellung erkundigten, die es so nicht mehr gibt. »Es ist ein unhaltbarer Zustand und im Grunde schlichtweg erbärmlich.«

Tausende Euro ohne Ertrag

Dabei werde das Café seit der Neueröffnung mit öffentlichen Geldern unterstützt. Mit ihnen soll das kulturelle Angebot des Hauses – etwa Veranstaltungen, aber eben auch die Ausstellung – finanziert werden. »Mal war die Rede von 2000 Euro im Monat, dann wieder von 2500 Euro im Monat«, sagt Bahr. Eine verbindliche Aussage sei man schuldig geblieben. »Andere Cafés hatten sich bitterlich über einen Wettbewerbsnachteil beklagt. Ich frage mich, wo das Geld – wir sprechen inzwischen ja von über 80 000 Euro – denn hingesickert ist.«

In der Bezirksverordnetenversammlung sei im vergangenen Jahr laut Bahr angegeben worden, dass die Wiederbelebung der Ausstellung wohl rund zwei Jahre dauern werde. Sein Wunsch nach einer schnelleren Umsetzung sei von der Leiterin des Bezirksmuseums mit Hinweis auf fehlendes Personal und unzureichende Mittel abgewiesen worden. »Ich habe dann darum gebeten, dass zumindest der momentane Rest der Ausstellung etwas schöner aufbereitet wird und kostenlose Hilfe von uns als Verein angeboten«, sagt Bahr. Auch hier sei er jedoch auf taube Ohren gestoßen.

Überrascht ist Bahr vor allem darüber, dass nicht nur von Seiten der Politik kein Interesse signalisiert werde, sondern auch das Bezirksmuseum keine Bereitschaft zeige: »Im Großen und Ganzen hat es in der Angelegenheit immer mal wieder Gespräche gegeben, aber eigentlich sind wir keinen einzigen Schritt vorangekommen.« Gegenüber »nd« verweist das Museum FHXB auf das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg als zuständige Institution. Letzteres ließ eine nd-Anfrage unbeantwortet.

Chaos Kosmos und kaputte Gedenktafeln

Achim Bahr sieht das Vorgehen im Fall der Ausstellung als symptomatisch für den ersten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee an. Eine weitere festgefahrene Situation sei etwa rund um das ehemalige »Kino Kosmos« zu beobachten, das mittlerweile als Event-Location dient. »Gefühltermaßen findet dort vielleicht vier- oder fünfmal im Jahr etwas statt«, sagt Bahr. An Konzepten fehle es nach wie vor. Ärgerlich seien auch die »monströsen« Plakatgerüste über den Tiefgarageneinfahrten vor dem Gebäude: »Wenn da kein Kino mehr ist, braucht man auch keine Gerüste mehr für Plakate.«

Ein Trauerspiel sei auch der katastrophale Zustand etlicher Gedenktafeln am Rande der Karl-Marx-Allee. »Ich glaube, mittlerweile ist keine dieser 40 Tafeln noch unbeschädigt.« Immer wieder würden Anwohnerinnen und Anwohner beim Verein nach den Tafeln fragen oder entwendete Stücke melden. »Früher wurden sie immer mal wieder gereinigt, kaputte Scheiben wurden ersetzt«, sagt der Historiker. Seit rund zwei Jahren reagiere der Bezirk überhaupt nicht mehr. Bahr verspricht: »Wir werden auch hier nicht lockerlassen.«

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