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Antisemitismus heute, hier und jetzt
Brandenburger Fachstelle registriert für das Jahr 2024 einen Anstieg von 377 auf 484 Vorfälle
Es klingt nach dem 1. April 1933, als die SA den Boykott jüdischer Geschäfte betrieb. Doch es geschieht am 11. März 2024: Jemand malt einen Davidstern an einen Laden in Velten und schreibt dazu: »Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!« Dann beschmieren am 9. April 2024 Unbekannte die Außenmauer der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen mit: »Good old times« (Gute alte Zeiten). Schließlich rufen am 8. November junge Leute in einem Park in Bernau auf Deutsch und Arabisch: »Tod den Juden und Zigeunern« sowie »freies Palästina«.
Es sind drei von 484 antisemitischen Vorfällen des Jahres 2024 im Land Brandenburg. Sicher ereigneten sich noch viel mehr solcher Vorfälle. Es gibt andere Zählungen und eine hohe Dunkelziffer. Aber die genannten 484 Fälle hat die hiesige Fachstelle Antisemitismus registriert. Sie stammen zum Teil aus der Polizeistatistik, die aber nichts erfasst, was nicht strafbar ist. Es sind bei der Fachstelle auch Meldungen von Betroffenen, von Jüdischen Gemeinden, von der Opferperspektive und von Gedenkstätten eingegangen. Außerdem durchforstete die Fachstelle die Presse und das Internet.
Den dabei herausgekommenen Jahresbericht stellt Derviş Hızarcı am Mittwoch in der Potsdamer Staatskanzlei vor. Er ist Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Diese Initiative betreibt die 2019 eingerichtete Fachstelle seit nunmehr drei Jahren.
Hızarcı ist Muslim, wird wegen seines Engagements gegen Antisemitismus jedoch immer wieder beschimpft, wie er sagt. Dabei sei »Judenfreund« noch die harmlose Variante. Brandenburgs Antisemitismusbeauftragter Andreas Büttner ist Christ. Er wurde aber auch schon als »Scheißjude« bezeichnet und mit dem Tode bedroht.
Während sich der Zuwachs an antisemitischen Vorfällen in Brandenburg im Jahr 2023 noch teils durch eine ausgebaute Datenerhebung habe erklären lassen, sei für das Jahr 2024 von einem tatsächlichen erheblichen Anstieg auszugeben, heißt es in dem 50 Seiten langen Bericht. 2023 hatte die Fachstelle 377 Vorfälle erfasst.
- Die brandenburgische Fachstelle Antisemitismus registrierte für das vergangene Jahr 98 Vorfälle auf offener Straße und weitere 30 Vorfälle im öffentlichen Nahverkehr, wobei 20 Geschehnisse sich auf Bahnhöfe und an Haltestellen zutrugen und die übrigen zehn in Bussen und Bahnen.
- In 63 Fällen waren Gedenkstätten die Tatorte und in 66 Fällen Bildungsstätten.
- Zehnmal traf es jüdische Friedhöfe. So sägten unbekannte Täter am 28. Januar 2024 auf dem jüdischen Teil des Friedhofs von Biesenthal einen Baum ab, der im Mai 2023 gepflanzt worden war und als Zeichen der Hoffnung galt, dass sich ein Verbrechen wie die Shoah, also die Ermordung der europäischen Juden in der Nazizeit, nie wiederholen werde.
- In Brandenburg lebten im vergangenen Jahr rund 2000 Juden, die in elf Gemeinden organisiert waren. Dazu kamen noch 3000 Personen, die etwa als Angehörige starke Verbindungen zum Judentum haben. af
213 Vorfälle des Jahres 2024 lassen sich dem Rechtsextremismus zuordnen. Linksradikale Motive (sechs Fälle) spielen damit verglichen fast keine Rolle. Eine durch christlichen Fundamentalismus erklärbare Tat ist nicht bekannt geworden. Aber 18 Fälle lassen sich auf Islamismus zurückführen. Auf Verschwörungsideologen entfallen 30 Vorfälle und auf den israelkritischen Aktivismus 94 Vorfälle.
Die Fachstelle verwendet die weitergehende Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, mit der Kritik an Israel schneller als Antisemitismus zu werten ist als nach einigen anderen Definitionen. Dennoch versichert Hızarcı, dass die Losung »freies Palästina« nicht automatisch antisemitisch sein müsse. Es hänge vom Kontext ab, den die Fachstelle berücksichtige. Wenn außer »freies Palästina«, so wie in Bernau geschehen, noch »Tod den Juden« gerufen werde, dann sei die Sache klar.
Zwar stiegen die Fallzahlen in Brandenburg nicht so sehr wie in Berlin oder Nordrhein-Westfalen. Das erklärt sich der Antisemitismusbeauftragte Büttner damit, dass Berlin im Herzen von Brandenburg liegt, aber nicht dazugehört. Wer als Brandenburger an Demonstrationen zum Nahost-Konflikt teilnehmen wolle, der fahre dazu in die Hauptstadt.
Ob der geringere Anstieg nicht einfach daran liege, dass in Brandenburg weniger Linksradikale und radikale Muslime leben als in Berlin, dafür besonders viele Rechtsextremisten, kann Derviş Hızarcı nicht sagen. Es so zu betrachten, sei »unterkomplex«, stellt er klar. Die Zahlen allein würden nicht ausreichen, so eine Mutmaßung zu untermauern.
Die meisten Vorfälle entfallen mit 77 auf den Landkreis Oberhavel – und das ist kein Zufall, denn dort befinden sich die KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück. Sie ziehen jährlich Hunderttausende ehrlich interessierte Besucher an, werden aber auch von Neonazis heimgesucht.
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»Der neue Monitoring-Bericht der Fachstelle Antisemitismus Brandenburg ist kein Zahlenfriedhof. Er ist ein Weckruf«, schreibt der ehemalige Linke-Landtagsabgeordnete und jetzige Antisemitismusbeauftragte Büttner im Geleitwort. Der Bericht erzähle von dem, was viele lieber nicht hören wollen, weil es unbequem sei. »Er macht sichtbar, was zu oft übersehen wird: dass Antisemitismus auch heute, auch hier, auch jetzt ein reales, greifbares Problem ist.« Nicht nur in den dunklen Ecken des Internets, sondern auf Schulhöfen, in Klassenzimmern, bei Demonstrationen, auf Fußballplätzen – »mitten unter uns«.
Zwar ist der Schutz jüdischen Lebens seit 2022 als Staatsziel in der Landesverfassung verankert. Aber Staatskanzleichefin Kathrin Schneider (SPD) muss erkennen: »Der Antisemitismus tritt immer offener auf und ist bedrohlicher geworden.« Wie sich das für Betroffene anfühlt, schildert anonym eine 14-jährige Person: »Ich habe Angst, zur Schule zu gehen. Immer wieder höre ich in den Gängen oder sogar im Unterricht, wie Mitschüler Witze über den Holocaust machen oder davon sprechen, dass Juden vergast gehören. Wenn jemand erfährt, dass ich jüdisch bin, kommen abfällige Kommentare oder ich werde ausgegrenzt. Ich fühle mich alleingelassen – von der Schule, von den Lehrern, von allen.«
Der Antisemitismusbeauftragte Büttner verspricht, man werde weiter kämpfen »für ein Brandenburg, in dem niemand Angst haben muss, weil er eine Kippa trägt, Hebräisch spricht oder für Israel eintritt«.
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