Es ist wie verhext

Kein Grund zu feiern: Die »Dialektik der Aufklärung« wird 75

  • Alex Struwe
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit den letzten Landtagswahlen ist die Partei Die Linke im Begriff, weitgehend in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Zwar ist die Partei nicht mit einer gesellschaftlichen Linken gleichzusetzen, doch die Tendenz, dass Positionen links des liberalen Mainstreams immer weniger Wirkmacht entfalten, ist seit Langem offenkundig. Dabei ist es zum Verzweifeln: Die kapitalistische Selbstzerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen, Krieg, grassierende Armut, Elend, Ausbeutung – all diese Befunde sind mittlerweile Alltagsverstand. Und dennoch scheinen immer weniger Menschen daraus eine linke Konsequenz zu ziehen. Warum ist das so?

Die meisten Menschen in linken Organisationszusammenhängen fragen sich allerdings, was dagegen zu tun sei. Die populärsten Antworten darauf haben sich selbst nach rechts bewegt: zurück zu einer autoritären Linken, die alle Probleme mit Klassenpolitik lösen will, die Arbeiterinteressen und nicht die Gleichheitsforderungen »immer skurrilerer Minderheiten« vertreten möchte. Man visioniert einen linken Populismus, der die Menschen bei ihren Ressentiments abholen soll. Denn wenn man erst einmal die Macht habe, würden sich Rassismus, Sexismus und Antisemitismus schon von allein auflösen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Dass linke Kräfte in der Krise auf regressive Gedanken kommen, ist Ausdruck ihrer Ohnmacht. Und diese entspringt wiederum einem gesellschaftlichen Zustand, der ernsthaft verstanden werden muss, um ihn nicht im eigenen Handeln ständig zu affirmieren und zu reproduzieren. Die objektive Erkenntnis der Gesellschaft, also Theorie, gehört deshalb zu einer linken Praxis dazu, wenn diese nicht einfach ideologisch sein soll. Viele, denen die Dringlichkeit der praktischen Veränderung der Gesellschaft am Herzen liegt, halten solche Theorie aber für eine Art Luxus, für praxisfern oder schlimmstenfalls für das selbstgerechte Gehabe von Theorielinken. Doch diese Theorie ist die Grundlage für das, was linke Positionen überhaupt von bürgerlichen oder rechten Weltbildern unterscheidet: die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Kurz gesagt: Ohne die Selbstreflexion ist das Vorhaben der menschlichen Emanzipation, das gute Leben für alle, dem Untergang geweiht. Das ist die zentrale Botschaft der »Dialektik der Aufklärung«, des berühmtesten und berüchtigtsten Werkes der Kritischen Theorie, das in diesem Jahr sein 75. Jubiläum erlebt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfassten es in den 40er Jahren im US-amerikanischen Exil. Es ist eine radikale und düstere Diagnose einer sich selbst zerstörenden bürgerlichen Gesellschaft. 1947 in einem Amsterdamer Verlag veröffentlicht, war das Buch lange vergriffen und wurde als Raubdruck zum Impulsgeber der 68er-Studierenden.

Leider ist die zentrale Lektion des Buches heute weitgehend verdrängt. Nämlich, dass jeder noch so emanzipatorische Gedanke falsch bleibt, wenn er seinen Zusammenhang zum falschen Ganzen nicht reflektiert. Im Umkehrschluss lässt sich daher sagen: Hätte die Linke diese These ernst genommen, sie wäre heute nicht in jenem katastrophalen Zustand, auf den die Gesellschaft als Ganze ebenso zusteuert.

Im Zentrum der »Dialektik der Aufklärung« steht berühmterweise die Frage, wie eine aufgeklärte und fortschrittliche Gesellschaft schließlich in Barbarei und absolute Unfreiheit kippen konnte. Der Aufstieg des Faschismus, die nationalsozialistische Herrschaft bis zum Zivilisationsbruch der Shoah sind kein bloßer Rückfall, sondern für Horkheimer und Adorno Teil der Aufklärung selbst. Sie rekonstruieren daher »die wirkliche Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer unter dem Aspekt ihrer in Personen und Institutionen verkörperten Idee«. Diese Idee der bürgerlichen Gesellschaft ist die Freiheit, allerdings eine Freiheit durch Naturbeherrschung. Die wirkliche Bewegung ihrer Entwicklung sei daher die der Totalisierung von Herrschaft.

Seit der Antike entwickelte der Mensch immer neue Techniken, sich die Natur untertan und damit gestaltbar zu machen. So sei er eben vom Regentanz zum Geoengineering fortgeschritten. Aber das Ganze hat einen Haken, denn »die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben«. Nur was zum Gegenstand geworden ist, könne beherrscht werden. Und was nicht als Objekt erfasst und beherrschbar gemacht werde, bleibe eine Bedrohung, eine Quelle der Angst. Fortschreitende Naturherrschaft sei daher zunehmende Verdinglichung, die letztlich den Menschen selber treffe. Die Herrschaft über die Natur setze eine Herrschaft gegen sich selbst voraus, und »mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich«.

Weil die Freiheit als Naturbeherrschung notwendig mit Herrschaft verklammert ist, steht am Ende der Entwicklung eben nicht die befreite Gesellschaft, sondern die totale Herrschaft. Diese drastische Diagnose leistet bis heute dem Missverständnis Vorschub, dem Buch gehe es um solchen Kulturpessimismus. Es handele sich, so der folgenreiche Vorwurf, erst von Jürgen Habermas und später von Axel Honneth, um eine überzogene Geschichtsphilosophie, die notwendig in der ausweglosen Katastrophe enden müsse. Das sei zu pessimistisch und einer verzweifelten Katastrophenstimmung verhaftet, so lauteten die Kritiken. Schlussendlich bescheinigte man vor allem Adorno, seine Gedanken seien selbstwidersprüchlich und praktisch nutzlos. Denn wenn alles ein totaler Herrschafts- – oder wie Adorno es formulierte – ein Verblendungszusammenhang sei, wie könne man dann überhaupt Kritik üben, geschweige denn irgendetwas besser machen?

Damit geriet aus dem Blick, dass die scheinbar so unproduktive Negativität bei Horkheimer und Adorno eine ganz andere Funktion erfüllte. Die kulturpessimistische Diagnose ist nicht das Ergebnis der Untersuchung, stattdessen sei »die Aporie«, wie Horkheimer und Adorno schrieben, ihr »erster Gegenstand«. Der Sinn der Vernunftkritik ist es daher, am Denken selbst jene Tendenz zu erkennen, die die Gesellschaft als Ganze bestimmt. Die »Dialektik der Aufklärung« sucht also einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Ideologie. Denn in einer total vergesellschafteten Gesellschaft bleibt tatsächlich kein Ort, keine Position und kein Gedanke übrig, der nicht gesellschaftlich vermittelt ist. Daraus ergibt sich eine fast schon banale Konsequenz: Nur über die Selbstkritik ist eine Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit möglich.

Linke Rationalitäts- und Modernekritik hat allerdings einen anderen Weg eingeschlagen. Wenn man der »Dialektik der Aufklärung« früher vorwarf, ihre Autoren würden Herrschaft und Vernunft zu allgemein in eins setzen, ist es heute zur Gewissheit geworden, dass Wissen immer von Macht durchzogen ist. Die Vernunft ist in Verruf geraten und wurde als Eurozentrismus oder dualistisches Denken dekonstruiert. Es macht allerdings einen gewaltigen Unterschied, ob man die konkrete Herrschaftsförmigkeit des Denkens kritisiert, oder einfach jede Bedeutung als machtförmig begreift. Daher wird heute lieber nach etwas ganz anderem gesucht – nach Posthumanität, Postsozialität und alternativen Kosmologien –, als die Mühen der Selbstkritik auf sich zu nehmen. Vergessen ist, dass die »Dialektik der Aufklärung« genau davon erzählt, nämlich, dass solcher Idealismus seinen Anteil an der Herrschaft hat.

Die Folgen dessen lassen sich auch am Vorwort zur Jubiläumsneuausgabe, geschrieben von Eva von Redecker, beobachten. Im Gegensatz zu früheren Lesarten stellt die Autorin die diagnostische Qualität auch für heute heraus. Unsere Gegenwart der drohenden Klimakatastrophe, der Hochkonjunktur an Verschwörungswahn und Antisemitismus, der Härte und Kälte der Menschen zueinander – sie sei in der »Dialektik der Aufklärung« bereits diagnostiziert. Aber zugleich relativiert von Redecker die Diagnose, die »in all ihren Übertreibungen« mehr einen narrativen Trick darstelle: »indem die Theorie das lückenlose Grauen der Weltgeschichte beschwört, soll sie ein Innehalten bewirken«. Sprich, sie solle eigentlich zeigen, was die instrumentelle Vernunft brutal ausschließt, nämlich Natur, Care-Arbeit, Reproduktion.

Aber diese Form der Besinnung, die von Redecker in Aussicht stellt, drückt sich auch vor der Herausforderung der »Dialektik der Aufklärung«: Sie kritisiert die Vernunft, aber nicht sich selbst als deren Teil. Sie will produktiv sein und die »Aufklärung vom Rückfall in den Mythos befreit« denken, sodass »Vernunft dann mit wirklicher Selbsterhaltung zusammen[fiele]«. So reizvoll von Redeckers Vorstellung auch ist, dass wir uns, ausgehend von der Kritik an unserer Härte, einer anderen Intelligenz wie der eines weichen Oktopus anschmiegen könnten, sie bleibt in ihrem Zweckoptimismus doch der instrumentellen Vernunft verwandt. Das bedeutet nicht, dass alle Versuche vergebens und alle Auswege versperrt sind. Es bedeutet aber, dass wir immer noch eine ungenügende Erkenntnis des verhängnisvollen Zusammenhangs haben, der uns die Emanzipation versperrt. Eine solche Erkenntnis ist nur möglich in der Kritik unserer eigenen Vorstellungen als Produkte dieser Gesellschaft.

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