In der Downing Street kriselt es weiter

41 Prozent der Tory-Abgeordneten stimmen gegen Boris Johnson

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf dem Papier hätte das Vertrauensvotum einen Strich unter die Party-Affäre ziehen sollen. Nach monatelangen negativen Schlagzeilen um Boris Johnson gewann der Premierminister am Montagabend doch noch den Rückhalt seiner Fraktion. Johnson sprach von einem »überzeugenden« Resultat, das es seiner Regierung erlaube, die Affäre hinter sich zu lassen. »Wir werden mit dem Regierungsprogramm, mit dem wir 2019 gewählt wurden, weitermachen«, sagte Johnson am Dienstagmorgen vor dem versammelten Kabinett – ganz so, als wäre die Party-Affäre nunmehr Geschichte.

Aber in Wirklichkeit ist die Frage seiner politischen Zukunft so akut wie zuvor. In Westminster spekuliert man, wie lange sich Johnson noch halten kann. Denn so »überzeugend«, wie der Premierminister behauptet, war das Abstimmungsergebnis auf keinen Fall: 148 Tory-Abgeordnete sprachen ihrem Chef das Misstrauen aus, das sind 41 Prozent der Fraktion. Als sich seine Vorgängerin Theresa May Ende 2018 einem Vertrauensvotum stellen musste – Johnson trat damals als ihr ärgster Widersacher auf –, war ihr Rückhalt in der Fraktion deutlich größer. Dennoch kündigte May fünf Monate später ihren Rücktritt an. Ähnlich könnte es auch Johnson ergehen.

»Ich weiß nicht, wie lange der Premierminister noch weitermachen kann«, sagte etwa Stephen Kerr, Tory-Abgeordneter im schottischen Parlament. Zweifelsohne sei Johnson »geschädigt«. Ähnlich äußerte sich William Hague, der die Partei vor zwei Jahrzehnten selbst anführte und mittlerweile im Oberhaus sitzt. Das Abstimmungsresultat zeige, dass das »Ausmaß der Ablehnung« überwältigend sei, schreibt Hague. »Tief in seinem Inneren sollte [Johnson] sich dessen bewusst sein« – er legt dem Parteichef den Rücktritt nahe.

Dass der Widerstand in den eigenen Reihen so groß ist, liegt auch daran, dass viele Abgeordnete das verlängerte Wochenende in ihren Wahlkreisen verbrachten und dort die Temperatur messen konnten. Das Fazit dürfte nicht eben ermutigend gewesen sein – die Wut auf den Premierminister sitzt bei vielen Briten tief. Eine Umfrage vor dem Vertrauensvotum ergab, dass 60 Prozent der Bevölkerung einen Rücktritt des Premierministers begrüßen würden, darunter 33 Prozent der Tory-Wähler von 2019.

Tobias Ellwood, einer der Tory-Abgeordneten, die öffentlich Johnsons Demission gefordert haben, sagte, dass eine solch breit abgestützte Rebellion der Hinterbänkler »in normalen Zeiten« das Ende des Regierungschefs bedeutet hätte. Aber Ellwood weiß, dass Johnson eben nicht ein gewöhnlicher Premierminister ist, der nach den Regeln Westminsters spielt. Ein freiwilliger Rücktritt ist denn auch derzeit sehr unwahrscheinlich. Stattdessen suchen seine parteiinternen Gegner nach Möglichkeiten, Johnson auf andere Weise loszuwerden.

Eigentlich darf nach den Regeln der Tory-Partei in den kommenden zwölf Monaten keine zweite Vertrauensabstimmung abgehalten werden. Aber laut Presseberichten sucht die 1922-Hinterbänkler-Gruppe nach einem Weg, die Regeln zu ändern, sodass ein solches Votum schon früher abgehalten werden kann. Aber auch ohne eine solche Reform dürften die kommenden Wochen und Monate nicht einfach werden für den Premierminister.

Am 23. Juni werden zwei wichtige Nachwahlen stattfinden, bei denen eine Schlappe für die Tories erwartet wird. Im nordenglischen Wakefield, wo diese 2019 gewannen, liegt Labour derzeit um 20 Prozentpunkte vorn; in Tiverton and Honiton in der Grafschaft Devon, wo die Tories seit jeher dominieren, wird die Regierungspartei nach derzeitigen Erhebungen ebenfalls eine Niederlage einstecken.

Sollten die Tories so schlecht abschneiden wie erwartet, würden sich die Johnson-Kritiker bestätigt fühlen: Ihre große Sorge ist, dass Johnson die gesamte Partei in den Dreck zieht und ihnen die Chancen auf eine Wiederwahl vermasselt. Was der Partei auch nicht hilft: der giftige parteiinterne Zwist zwischen Johnsons Gegnern und seinen Unterstützern, der wegen der Party-Affäre ausgebrochen ist.

Mitten drin ist Kulturministerin Nadine Dorries, eine glühende Johnson-Verehrerin. Als der ehemalige Gesundheitsminister Jeremy Hunt ankündigte, im Vertrauensvotum gegen Johnson zu stimmen, konterte Dorries mit einem ungehaltenen Twitter-Thread: Sie beschuldigte Hunt der Inkompetenz und »Doppelzüngigkeit«, und sagte, dass er »praktisch immer falschliege«. Andere Abgeordnete kritisierten, dass eine solche persönliche Attacke einer Politikerin unwürdig sei. Das dürfte jedoch Dorries kaum scheren – da hält sie es wie ihr Idol.

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