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  • »22. Juli – Die Schüsse von München«

Im Kreuzfeuer der Erregungsgesellschaft

Der Sky-Vierteiler »22. Juli – Die Schüsse von München« erinnert an den rechtsradikalen Terroranschlag vor sechs Jahren,der keiner sein durfte – und daran, wie das halbe Land acht Stunden lang durchdrehte

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Ereignisse, die brennen sich so tief ins Gedächtnis ein, dass Augenzeugen auch Jahre später minutiös rekapitulieren können, was sie dabei getan haben. Ältere Semester zum Beispiel: bei der Mondlandung, der Krönung von Queen Elizabeth II., beim Tod von John F. Kennedy. Jüngere Semester: Tschernobyl, Lady Dianas Hochzeit, Kurt Cobains Tod. Und noch aktueller: 9/11, Jogis Sommermärchen – und dann dieser Moment, als der Terror das ganze Land buchstäblich in Atem hielt.

Am 22. Juli 2016 um 18.03 Uhr rauscht der erste Tweet durchs Internet: Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum. Bis dato eine Mall von unscheinbarer Ödnis, sollte ihr Kürzel danach auch außerhalb Münchens bekannt werden wie CSU oder FCB – so untrennbar ist das OEZ seither mit dem jungen Jahrhundert des globalen Terrors verbunden. Ein Umstand, den »Sky Crime« zum Jubiläum mit einer Dokumentarreihe in Erinnerung ruft, die trotz bekannten Ausgangs ähnlich fesselt wie das Originalgeschehen.

Sechs Jahre ist der Anschlag mit eigenem Wikipedia-Eintrag nun her, und wer entsinnt sich nicht der atemberaubenden acht Stunden vor Bildschirmen jeder Art und Größe? Gebannt starrten Großteile der Bevölkerung zugleich auf Smartphone und Fernseher, je nach persönlicher Priorität Second Screen genannt, und fürchteten sich vor Pariser Verhältnissen. Acht Monate zuvor hatten Islamisten die Stadt angegriffen. 130 Tote, 683 Verletzte, ein ganzes Land, die halbe Welt in Schockstarre. Und dann rasten News, Memes, Postings durch alle digitalen und linearen Kanäle, in Bayern geschehe dasselbe.

Von dieser Fehleinschätzung berichtet »22. Juli – Die Schüsse von München« viermal 45 Minuten – ein ebenso kluges wie fesselndes Stück Fernsehen. Regisseur Johannes Preuss hilft dem kollektiven Gedächtnis gemeinsam mit Martin Bernstein, Polizeireporter der »Süddeutschen Zeitung«, nämlich nicht nur chronistenpflichtig auf die Sprünge. Bei der Aufarbeitung dieses kollektiv eingravierten Ereignisses sortiert er das Chaos jener Julinacht mitunter völlig neu.

Zur Erinnerung: Als ein 18-jähriger Deutsch-Iraner am Nachmittag des titelgebenden Datums neun OEZ-Besucher erschossen hat und fünf teils lebensgefährlich verletzt, geraten sämtliche Medien im Bann der IS-Anschläge von Paris und Nizza außer Rand und Band. Obwohl der Einzeltäter kaum drei Stunden nach der Tat tot aufgefunden wurde, durchkämmen 2300 Polizeibeamte die Stadt nach Komplizen. Aus scheinbar triftigem Grund, wie Preuss belegt. Auf einer virtuellen Karte lässt er vom Marienplatz bis raus nach Dachau 73 Orte aufpoppen, an denen Schüsse, Tote, Terror gemeldet wurden.

Als Münchens Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins noch früh am Abend öffentlich spekuliert, er gehe »von bis zu drei flüchtigen Tatverdächtigen« aus, schneidet die Regie auf einen Netzreporter, der daraus »die Fahndung nach bisher drei Tätern läuft auf Hochtouren« macht. Twitter, Youtube, Facebook laufen über vor Fake News über Fake News über Fake News. Und als das Video eines Schuhgeschäfts viral geht, vor dem bewaffnete Polizisten Kopftuchträgerinnen in Schach halten, nimmt das Märchen religiöser Motive Fahrt auf.

Die gereizte Erregungsgesellschaft, sie will belogen werden. Social Media liefern. Und diese Dynamik fasst Sky mithilfe vieler Zeitzeugen aus Politik und Wissenschaft, Betroffenen und Beobachtern im ersten und dritten Teil exzellent zusammen. Innenminister kommen zu Wort, Mediziner, Passanten, selbst Jugendfreunde des Einzeltäters – das handelsübliche Real-Crime-Personal eben. Solides Handwerk mit dramatisierender Musik in Dauerschleife und bei aller Güte ein paar Effekten zu viel.

Wirklich relevant wird das Gesamtwerk erst, wenn Teil zwei und vier den Hintergrund beleuchten. Denn der ist wirklich erschreckend. In jeder Hinsicht. Preuss und Bernstein ruhen sich nämlich nicht auf der These des einsamen Wolfes aus, dessen Frust sich nach Jahren des Mobbings und Ballerspielens im Amoklauf entlädt. Sie zeigen David Sonbolys Verbindungen ins globale Nazi-Milieu, die Bedeutung des rechtsradikalen Netzwerks »Steam« für seine Radikalisierung und wie sich all das in Anders Breivik verdichtet, dessen Anschlag von Utøya dem Deutschen bis hin zur Waffe als Blaupause dient. Weil »Die Schüsse von München« parallel aufdecken, wie blind Behörden und CSU (nicht nur) damals auf dem rechten Auge waren, sind sie folglich mehr als bloße Terrorhistorisierung zwischen NSU und Breitscheidplatz. »22. Juli« ist umfassende Dokumentarfilmkunst.

»22. Juli – Die Schüsse von München« läuft auf Sky.

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