Gerührter Rapper

Der Musiker Marteria in der Waldbühne Berlin

  • Kristof Schreuf
  • Lesedauer: 3 Min.
Marteria in der Waldbühne Berlin
Marteria in der Waldbühne Berlin

Marteria ist vom Publikum und von dem Abend, den es ihm beschert, beeindruckt: »Waldbühne,« ruft er aus, »was hast du mit mir gemacht / Man kann uns alles nehmen / Nur nicht diese Nacht.«

Anderthalb Stunden zuvor hat der Rostocker Rapper sein Konzert mit dem autobiografischen Stück »Verstrahlt« begonnen. Darin schildert das lyrische Ich zunächst die Situation in der elterlichen Wohnung. Dort stand »Porzellan aus Meißen« auf dem Esstisch, der Vater hatte außer Weintrinken wenig vor und die Mutter verbrachte viel Zeit mit »Serviettenfalten«. Nach diesen Hinweisen auf eine organisierte Langeweile mehren sich im Lied die Anzeichen für eine Zuspitzung. Der »Sittich im Käfig« stirbt und der »elektrische Kamin« geht aus. Marteria ist bereit für eine Veränderung, es braucht nur noch einen Anlass. Als er ihn findet, beschreibt Marteria dieses einschneidende Erlebnis wie den Beginn eines galanten Abenteuers: »Plötzlich steht sie da«. Dabei könnte es sich um eine Frau handeln, über die Marteria dankbar sprechsingt: »Sie hat mich befreit / Denn mein Aquarium war zu klein«. Aber »sie« kann genauso für den Moment stehen, in welchem Marteria zum ersten Mal Hip-Hop gehört, ein Bier getrunken oder einen Joint geraucht hat. Die Musik, das Getränk oder die Substanz mögen ihn zu der Erkenntnis angespornt haben, wie er sie in »Bengalische Tiger«, einem anderen Stück dieses Abends formuliert: »Wir müssen raus hier.«

Raus aus einem Leben, welches in Marterias Fall zunächst aus viel Fußballspielen in Rostocker Jugendmannschaften bestand und dann aus weltweiten Reisen, um Model-Jobs zu übernehmen. Erst danach entschied sich Marteria für die Musik. Seinen Entschluss danken ihm am Sonntagabend 16 000 Besucherinnen und Besucher in der ausverkauften Waldbühne.

Während Marteria sich an sie wendet, bewegen sich rechts und links von ihm zwei Männer mit Kameras. Mit fast schon tänzerischen Fähigkeiten gelingt es ihnen, an dem höchst beweglichen Künstler dranzubleiben und von ihm Bilder aufzunehmen, die sofort auf sechs mehrere Fußballtore großen Bildschirmen gezeigt werden. So kann auch jemand, der nicht vor der Bühne steht, sondern 250 Stufen höher den freudigen Blick Marterias erkennen, seine Bartstoppeln begutachten und so ziemlich jeden einzelnen Schweißtropfen auf seiner Stirn zählen.

Musikern auf Finger zu schauen, mag zur Beschäftigung des Besuchers eines Rockkonzerts gehören. Doch bei Marteria lenkt es die Aufmerkamkeit von den heute Abend reichlich vollführten großen Gesten ab. Marteria wird zum Beispiel nicht müde, sich für den Abend zu bedanken. Er steht, wenn er gerade nicht zu rappen hat, manchmal wie von einem freudigen Donner gerührt da. So, als könnte er die Wucht des Ereignisses nicht fassen. An den Reaktionen des Publikums lässt sich erkennen, dass Marteria nicht nur seine Worte, sondern auch sein Verhalten voll und ganz geglaubt wird. Deshalb waren etliche vor dem Konzert bereit, weite Reisen und viel Aufwand auf sich zu nehmen. Jackson etwa hat sich aus Belo Horizonte in Brasilien auf den Weg gemacht. Erst flog er über den Atlantik, dann hat er ein paar Tage im Wald geschlafen. Nun holt ihn Marteria zu sich auf die Bühne. Er überlässt dem jungen Mann das Mikrofon.

Der Moment ist toll, und dieser Abend ist voll mit tollen Momenten. An dem nächsten ist der Sänger Campino von den Toten Hosen beteiligt. Marteria trägt mit ihm zusammen seine Gedanken über »Scheiß-Ossis« und »Scheiß-Wessis« vor. Wozu auch eine Betrachtung über Erfolgsgeschichten gehört: »Der Osten erobert die Welt /Rammstein, Tokio Hotel / Die Prinzen, Finch, Kraftklub, Tretti.«

Den größten Reiz hat Marteria an diesem Abend allerdings mit anderen Stücken ausgeübt. Sie handeln von Menschen, deren Jugend, wie die der »Bengalischen Tiger«, noch nicht lange genug zurückliegt, um sie zu vergessen.

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