Immer weniger Ärzte »auf Drogen«

Die Gebührenordnung belohnt das tägliche Erscheinen der Patienten, auch wenn das nicht immer sinnvoll ist

  • Manfred Godek
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Patient nimmt einen Becher vom Regal und stellt ihn unter den Hahn einer kleinen Dosiermaschine. Eine medizinische Fachangestellte tippt seinen Namen in ihren PC. Sogleich fließt aus dem Automaten die richtige Menge des Drogen-Ersatzmittels. Das Prozedere dauert kaum eine Minute. Dafür erhält der Arzt laut Gebührenordnung pro Quartal 704 Euro. Diese Berechnung des Instituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen (IGES) fußt auf der Annahme, dass ein Patient an 80 Prozent der Tage in der Praxis erscheint. Kein schlecht verdientes Geld, zumal es extrabudgetär fließt.

Gleichwohl übernehmen immer weniger Ärzte eine solche Behandlung. Laut der Bundesopiumstelle ist ihre Zahl von 2781 im Jahr 2012 auf 2496 im Jahr 2021 gesunken. Bis 2027 scheiden rund ein Drittel dieser Mediziner altersbedingt aus. Zugleich steigt die Zahl der Patienten. Von den hierzulande geschätzt rund 161 000 Abhängigen ist nur die Hälfte in medizinischer Betreuung. In Frankreich, Spanien und Norwegen sind es rund 80 Prozent, in Rumänien 8 Prozent.

Die distanzierte Haltung gegenüber der Substitution hat verschiedene Gründe. Eine Rolle spiele, dass es sich um sehr schwierige Patienten mit komplexen Störungs- und Krankheitsbildern handeln könne, so Heino Stöver, Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences, außerdem Vorstand von Akzept, Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik. Diese Patienten könnten den Praxisbetrieb stören. Viele Ärzte befürchteten zudem, in ein schlechtes Licht zu geraten, wenn Leute aus der Drogenszene bei ihnen Schlange stehen. »Bei langjährigen Patient*innen ist die tägliche Vergabe aber gar nicht mehr nötig«, so Experte Stöver.

Dies allerdings wird nach Ansicht von Medizinern, Fachverbänden und Gesundheitspolitikern vom Vergütungssystem ignoriert, was der eigentliche Knackpunkt sei. Die Richtlinien der Bundesärztekammer lassen es zu, einem ausreichend stabilisierten Patienten mehr Eigenverantwortung zu übertragen und ihm anstelle der täglichen Vergabe in der Praxis ein Rezept für die Apotheke auszustellen. Alternativ zu dieser als »Take home« bezeichneten Lösung kann die jeweilige Substanz auch in einer Depotversion verabreicht werden. Bei dieser wird das Ersatzmittel unter die Haut gespritzt, wo es seinen Wirkstoff kontinuierlich freisetzt.

Allerdings honoriert die Gebührenordnung die fließbandähnliche tägliche Abgabe des Ersatzmittels besonders gut und die patientenbezogenen Varianten besonders schlecht. Bei letzteren sinkt die Vergütung um mehr als die Hälfte; bei einer Take-home-Therapie mit zweimaliger Rezeptausgabe pro Woche beispielsweise auf 313 Euro.

Dass die tägliche Vergabe lukrativer sei als beispielweise ein aus fachlicher Sicht gebotenes Take-home setzt nach Ansicht von Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt »falsche Anreize«. Dirk Schäffer, Referent für Drogen bei der Deutschen Aidshilfe e. V. wird noch deutlicher: Mediziner würden »quasi finanziell bestraft«, wenn sie Patienten in die Eigenverantwortlichkeit entlassen. Was ja das eigentliche Ziel der Behandlung sei.

»Ärzt*innen lassen Patient*innen aus finanziellen Gründen lieber in die Praxis kommen. Das hilft nicht den Behandelnden und den Abhängigen schon gar nicht«, kritisiert Katrin Vogler, Sprecherin der Linke-Bundestagsfraktion. Es bestehe aber auch das Problem, dass viele Ärzte über die rechtlichen Spielräume nicht informiert seien. Zudem könnten viele Betroffene mit anderen Abgabeformen und -orten niedrigschwelliger erreicht werden.

Ärzte sollten verantwortungsvoll jeden Einzelfall begutachten und ohne wirtschaftliche Hintergedanken die jeweils passende Therapieform wählen können, fordert Linda Heitmann MdB (Bündnis90/Die Grünen), Ordentliches Mitglied im Gesundheitsausschuss. Bessere Möglichkeiten für Konsiliarregelungen, etwa für die Einbeziehung eines weiteren Facharztes, gehörten ebenfalls dazu.

In jedem Fall müsse das therapeutische Gespräch besser honoriert werden, fordert die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin. Laut der IGES-Studie ließen sich durch die Einführung neuer Gebührenziffern die Aufwendungen so verlagern, dass weder den Ärzten Erlöseinbußen entstünden, noch die Behandlung sich insgesamt verteuere.

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