Große Trauer um Mevlüde Genç

Hunderte nehmen Abschied von der Frau, die nach dem Mordanschlag von Solingen für Versöhnung eintrat

  • Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon eine Stunde vor Beginn der Trauerfeier für Mevlüde Genç strömen die Menschen in die Untere Wernerstraße. Dorthin, wo vor 30 Jahren die Tragödie stattfand, die Genç zu trauriger Bekanntheit gebracht hat. Wo einst ihr Haus stand, stehen heute fünf Kastanien. Eine für jedes Opfer des Anschlags. Am Zaun zum Grundstück liegen Kränze, zahlreiche türkische Vereine und Parteien bekunden ihre Trauer. Die nordrhein-westfälische Landesregierung und die Stadt Solingen ebenso.

Die meisten Menschen, die an diesem Dienstag von Mevlüde Genç Abschied nehmen, haben ihre Wurzeln in der Türkei. Auf die Frage, warum sie da sind, erhält man immer wieder ähnliche Antworten: Mevlüde Genç habe Kraft gegeben in schlimmen Zeiten; sie habe dafür gestanden, dass Deutschland auch die Heimat der Türken sei.

Die Trauerfeier für Mevlüde Genç ist eine politische Veranstaltung. Gemeinsam mit den Angehörigen kommen zahlreiche Politiker der Regierungspartei AKP aus der Türkei an. Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst nimmt an der Feier teil. Neben dem CDU-Mann sind zahlreiche weitere Landespolitiker gekommen. Wüst findet die richtigen Worte. Er würdigt das Engagement von Mevlüde Genç, wendet sich aber in erster Linie an die Hinterbliebenen. Wüst konstatiert, dass sie einen wichtigen Menschen verloren haben. Seine Ansprache ist kurz und empathisch.

Ähnlich hält es Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach. Er verspricht, das Gedenken an den Anschlag 1993 im Bewusstsein der Stadtgesellschaft zu halten.

Es ist nicht das erste Mal, dass in der Unteren Wernerstraße ein Sarg steht. Am 3. Juni 1993 standen hier, vor den verkohlten Überresten des Hauses, in dem Familie Genç gelebt hatte, die fünf Särge von Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç, der Opfer des Brandanschlags vom 29. Mai. Deutsche und türkische Fahnen wehten vor der Brandruine. Johannes Rau als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundespräsident Richard von Weizsäcker waren gekommen. Damals, nur wenige Tage nach dem Mord, begann Mevlüde Genç zu versöhnen. Sie sprach davon, dass der Tod ihrer Kinder die Menschen öffnen solle. Sie könnten Freunde sein.

Freundschaft und Versöhnung voranzutreiben, das beschäftigte die Frau, die 79 Jahre alt wurde, seit dem Brandanschlag. Über die vier jungen Neonazis, die das Leben ihrer Familie zerstörten, sagte Genç, dass sie in ihrem »Innersten eine Abneigung« empfinde, aber keinen Hass. Die tiefgläubige Frau sagte, Gott habe ihr dieses Schicksal gegeben.

Die Aufrufe zum friedlichen Zusammenleben und gegen Hass brachten Genç viel Respekt ein. Anfang der 90er Jahre wäre nach zahlreichen Brandanschlägen und den rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda auch eine andere Reaktion denkbar gewesen. Auch in Solingen, wo Tausende junge Migranten ihre Wut auf der Straße zeigten, trug Mevlüde Genç dazu bei, die Situation zu beruhigen.

Viel Respekt erhielt Genç auch für ihre Stärke, weiterzuleben und ihre Familie zu versorgen. Der »Süddeutschen Zeitung« sagte sie: »Ich habe fünf meiner Kinder an einem Tag verloren und am selben Tag in Särge gelegt. So etwas ist nicht einfach. Ich habe nachts geweint und mich tagsüber um meine anderen Kinder gekümmert. Ich habe meine Tränen nicht gezeigt.«

1996 wurde Mevlüde Genç das Bundesverdienstkreuz verliehen. 2012 entsandte die CDU sie in die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten. Seit 2018 vergibt die nordrhein-westfälische Landesregierung die Mevlüde-Genç-Medaille an Personen, die sich für Toleranz und Versöhnung engagieren.

Doch es gibt und gab auch immer wieder Versuche, Mevlüde Genç zu vereinnahmen. Als sie nach der Selbstenttarnung des NSU ihr Vertrauen in die staatliche Aufklärung äußerte, wurde das gerne zitiert, um von der Kritik anderer Opfer abzulenken. Auch Vertreter des türkischen Staates und konservativer Islamverbände versuchten, aus dem Gedenken an die Opfer von Solingen politisches Kapital zu schlagen. 

Murat Kayman von der progressiven Alhambra-Gesellschaft aus Köln kritisiert den Aufruf eines Millî-Görüş-Funktionärs, sich an der Trauerkundgebung zu beteiligen. Die Verbände hätten Mevlüde Genç und ihr Wohnzimmer als »Kulisse missbraucht«. Sie sei für die Verbandsfunktionäre nur der »Pokal« einer »Opferrhetorik«. Versöhnung und Zusammenhalt seien nicht in ihrem Interesse, es gehe um »Spaltung und identitäre Frontenbildung«.

Für Mevlüde Genç spielen diese Kontroversen nun keine Rolle mehr. Sie hat, wie es der Imam in seinem Trauergebiet sagte, gezeigt, dass es möglich ist, »diese Erde in einen friedlicheren Ort zu verwandeln«. Jetzt wird sie ebenso wie ihre Kinder und Enkel in ihrem Geburtsort Mercimek beigesetzt.

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