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  • Demografische Forschung

»Demografie ist nicht nur Erbsenzählerei«

Ein Gespräch über die Möglichkeiten demografischer Forschung und die Grenzen der Realpolitik

  • Sigrun Matthiesen
  • Lesedauer: 7 Min.
Demografische Forschung: »Demografie ist nicht nur Erbsenzählerei«

Fachkräftemangel und Pflegenotstand sind zwei Themen, die aktuell wieder oft unter dem Schlagwort »Generationengerechtigkeit« diskutiert werden. Ist das aus demografischer Sicht korrekt?

OXI – Wirtschaft anders denken
Das Generationenthema ist geeignet, die Sehnsucht nach Einteilung und Erklärung zu befriedigen. Interessant und bedenklich zugleich ist der Versuch, Generationenkämpfe zu postulieren. Nicht zwischen Klassen, nicht zwischen Menschen, die sich im sozialen Gefälle an unterschiedlichen Stellen befinden, nicht zwischen externalisierenden und unter der Externalisierung leidenden Gesellschaften und schon gar nicht zwischen Lohnarbeit und Kapital, Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Ausgebeuteten und Ausbeutern werden die Hauptkonflikte, die Grundwidersprüche gesucht. Die Ausgabe kommt am 11. November 2022 zu den Abonnent*innen, am 12. November liegt sie für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exlusiv bei.

Nur bedingt – die Alterung unserer Gesellschaft und die niedrige Fertilitätsrate sind natürlich eine Ursache des Fachkräftemangels und auch eine Ursache dafür, dass wir höheren Pflegebedarf haben. Aber der Begriff Generation spielt da nicht direkt rein. Denn es ist ja keine naturgegebene Voraussetzung, dass die Kindergeneration für die Pflege der Eltern, zuständig sein muss.

Ist dieses gesellschaftliche Denken in Generationen ein Medien-Ding oder hat die Demografie als Wissenschaft mit ihren Zahlen und Schaubildern es mit verursacht oder mindestens befeuert?

Generation ist ja erst mal ein feststehender demografischer Begriff, um die Zusammenhänge, in denen wir leben, zu beschreiben: Dass ich Eltern habe, möglicherweise Kinder habe und in der Generationenbeziehung irgendwo hingehöre, dass es Transferzahlungen zwischen Generationen gibt, ist nur eine Beschreibung. Auch Generation X, Y und Z, wie man sie auch immer nennt, sind Versuche, bestimmte Dinge zu beschreiben.

Für mich ist eher die Frage, ob wir uns beim Thema Alterung der Gesellschaft, was ja ein Fakt ist für Deutschland, vielleicht zu sehr auf bestimmte Aspekte konzentriert haben. Beispielsweise den Geburtenrückgang als Ursache der Alterung oder eben die Frage, ob die junge Generation für die Pflege der Älteren und auch für die Rente aufkommen muss.

Ist die Angst vor dem Bauch an der falschen Stelle der Bevölkerungspyramide eigentlich etwas typisch Deutsches und wo kommt sie her?

Die Bestandsaufnahme ist: Das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist in den letzten Jahren nach oben gegangen. Das gilt für Deutschland, aber auch für Italien und für Japan noch mal mehr. Diese Länder setzen sich auch mit der demografischen Alterung auseinander und andere, wie Brasilien oder Kolumbien, stehen kurz vor einer ähnlichen Entwicklung. Das würde ich nicht als unbegründete Angst oder Hysterie abtun. Wir haben die Altersgrenze bei der gesetzlichen Rente angehoben, weil wir kurz davorstehen, dass die Babyboomer in Rente gehen. Das ist in einem umlagefinanzierten Rentenversicherungssystem keine Trivialität. Ich glaube, die Demograf*innen haben das gerade in den letzten Jahren sehr sachlich debattiert. Wir hatten beispielsweise im Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock schon 2011 eine Podiumsdiskussion zum Thema »Jugend-Lücke in Ostdeutschland«. Das war ein Versuch, verschiedene Akteure an den Tisch zu bekommen und sie für diese Themen zu sensibilisieren. Einiges wird dann in den Medien teilweise sehr reißerisch dargestellt, aber ich würde das jetzt nicht als Problem der Demografie sehen.

Sehen wir von der Medienhysterie ab: Was an diesem großen Thema »Alterung« ist aus demografischer Sicht wirklich wichtig?

Dieses Thema ist einfach wahnsinnig wichtig, weil damit ganz viele gesellschaftliche Probleme einhergehen. Wenn wir einen sehr hohen Anteil an älteren Personen haben, bedeutet das eine größere Krankenlast in der Gesellschaft. Da kann man nicht sehenden Auges einfach sagen: »Das wird sich schon irgendwie fügen.« Nehmen wir Demenzerkrankungen, mit denen eine Pflegelast einhergeht, die man nicht unterschätzen darf. Was da zu stemmen ist, gerade in den Zeiten, wo eben Fachkräftemangel in diesen Bereichen herrscht. Also, Rente und Alterung sind wichtige Themen, auch wenn wir schon seit Jahren viel darüber geredet haben und etwas erschöpft sind. Verglichen mit Frankreich – wo man das Rentenalter nicht angehoben hat – wurde in Deutschland auch einiges gemacht.

Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch andere Aspekte, die in dieser Diskussion ein bisschen vergessen werden. Dass natürlich auch Demografie und soziale Ungleichheit eng miteinander zusammenhängen, oder die zunehmende Familien-Diversität, mit der auch viele Risiken verbunden sind. Beispielsweise: Welche Unterstützungsnetzwerke bestehen im Alter noch, wenn Familien diverser werden? Das sind auch demografische Themen, die meiner Ansicht nach in den kommenden zehn Jahren noch mal relevanter werden. Jahrgänge, in denen viele Trennungen oder Scheidungen erlebt haben, kommen jetzt langsam ins Rentenalter. Das sind neue Herausforderungen fürs Altern.

Wie gehen Demograf*innen überhaupt damit um, dass all ihre schönen langfristigen Vorhersagen entweder ignoriert oder viel zu spät beachtet werden?

Ich würde sagen, da geht es den Demograf*innen nicht schlechter als den Klimaforscher*innen, ganz im Gegenteil. Ich hatte schon das Gefühl, beispielsweise bei dieser Veranstaltung vor über zehn Jahren, dass die Akteure aus Wirtschaft und Politik zugehört haben. Damals war ich auch in der Expertenkommission Demografie im Innenministerium, wo ich dann auch die Möglichkeit hatte, zu hören, was die Politik macht. Auch in Bezug auf den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland. An allen Stellen hatte man das Gefühl: »Wir haben doch alles getan, was wir können.« Aber letztendlich geht es dann um die Umsetzung und Schnittstellen-Probleme, die sind in Deutschland viel größer, als man denkt. Wir kriegen es ja in unserer Hochschule mit, wenn man Absolvent*innen, die aus Drittstaaten kommen, hier länger halten will. Es ist unheimlich schwierig, die Fachkräfte hier zu halten: Wenn dann viele Formulare einfach nicht auf Englisch sind, wenn im Einwohnermeldeamt nur Deutsch gesprochen wird … Die Willkommenskultur für Fachkräfte in Deutschland ist einfach nicht sonderlich ausgeprägt. Selbst wenn diese einzelnen Stellen in ihrem jeweiligen Bereich vielleicht alles gemacht haben – wirklich mal zu gucken, wie die politischen Maßnahmen tatsächlich wirken und welche Schnittstellenprobleme es gibt, das ist, denke ich, gerade für Deutschland ein Problem.

Im Bereich Rente würde ich sagen, da sind eigentlich die wesentlichen Reformen auf den Weg gekommen. Im Bereich Migration, gerade im Bereich Fachkräftezuzug, wäre ich da skeptischer. Auf der europäischen Ebene wurde damals die Blue Card eingeführt. Heute kann man wohl sagen, dass das eher ein großer Flop war. Mittlerweile sind nationale Alleingänge wieder der Normalfall, um auf den Fachkräftemangel zu reagieren. In Deutschland haben wir mittlerweile das Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz. Aber ob das so richtig einschlägt? Wir sehen jetzt einen moderaten Anstieg beim Zuzug von Inder*innen, was ein bisschen Hoffnung macht. Also, ich glaube, gerade im Bereich der Zuwanderung von Qualifizierten, da waren wir zu schwerfällig und das fällt einem jetzt auf die Füße. Diese Hoffnung, die Osteuropäer*innen würden das wieder auffangen, und nicht früh genug zu realisieren, dass es in Osteuropa auch Pflegenotstand gibt … Ich glaube, in der Migrationspolitik hat man da einiges verschlafen.

Angesichts derartiger politischer Aufgaben, ist es da nicht manchmal frustrierend, immer wieder in diesem Forschungsdreieck von Geburt, Migration, Tod gefangen zu sein?

Das sind einfach die entscheidenden Ereignisse im Leben. Geburten, Sterbefälle und Migration bestimmen nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch die Bevölkerungsstruktur. Es ist aber ganz wichtig, dass Demografie eben nicht nur Erbsenzählerei ist: Es geht nicht um die Bevölkerungszahl, sondern auch um die Bevölkerungsstruktur, die eng mit Fragen der sozialen Ungleichheit zusammenhängt.

Welche Forschungsaspekte, mit denen die Disziplin jetzt beschäftigt ist, werden Ihrer Ansicht nach in 20 Jahren die größte politische Relevanz haben?

Es gibt einige Dauerbrenner-Themen, die leider auch in 20 Jahren noch auf der Tagesordnung stehen werden. Dazu gehören ganz sicher der Gender Pay und Gender Pension Gap und die Armut von Alleinerziehenden. Frauen gehen immer noch aus dem Arbeitsmarkt raus, wenn sie Mütter sind. Wenn wir uns angucken, was Frauen an eigenständiger Rente zusammenbringen, dann ist das immer noch, selbst für die jüngeren Generationen, nicht besonders. Wie bessere Vereinbarkeit hergestellt werden kann und ob die digitale Transformation des Arbeitsmarktes hier eine Lösung darstellen kann oder vielleicht die Ungleichheiten noch mal verstärkt, sind sicher Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Auch an anderen Megathemen werden wir in der Demografie sicher nicht vorbeigehen können. Welche Bedeutung Familie- und Familienverhalten für die ökologische Transformation haben, ist ganz klar auch ein demografisches Thema.

Michaela Kreyenfeld ist Professorin für Sociology an der Hertie School of Governance in Berlin , mit den Forschungsschwerpunkten Familiendemografie und Familiensoziologie. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Demografie sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie des Beirats für Familienfragen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Mit ihr sprach Sigrun Matthiesen.

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