Gefangen im Niemandsland

An der polnisch-belarussischen Grenze stecken weiterhin hunderte Geflüchtete fest. Helfer werden kriminalisiert

  • Dorothée Krämer
  • Lesedauer: 5 Min.
Viele Menschen versuchen, über die polnisch-belarussische Grenze in die EU einzureisen.
Viele Menschen versuchen, über die polnisch-belarussische Grenze in die EU einzureisen.

Was hat aus Ihrer Sicht dazu geführt, dass die polnisch-belarussische Grenze letztes Jahr ins Zentrum der europäischen Migrationsdebatte geriet?

Interview


Vor einem Jahr war die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze in aller Munde. Seit August 2021 hatte sich die Anzahl der Menschen, die versuchten, über Belarus nach Polen einzureisen, stark erhöht. Die belarussischen Behörden hatten ihnen suggeriert, es sei leicht, auf diesem Weg in die EU zu gelangen. Doch sie fanden sich in einer Falle wieder: gefangen in den Wäldern zwischen Belarus und Polen. Belarussische Grenzbeamt*innen zwangen sie immer wieder in Richtung Grenze, polnische Beamt*innen prügelten sie zurück. Noch immer befinden sich hunderte Menschen in dieser aussichtslosen Lage, und mit dem bevorstehenden Winter wird sich ihre Lage wieder zuspitzen.
Jagoda gehört zu einer Gruppe polnischer Aktivist*innen, die kürzlich auf einer Tour durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und Slowenien darüber informierten und Unterstützung mobilisierten. Weil ihre Arbeit durch die polnische Regierung kriminalisiert wird, möchte sie anonym bleiben. Mit ihr sprach Dorothée Krämer.

Die Grenze zwischen Belarus und Polen war für Menschen, die keine Chance auf ein Visum für den sogenannten Schengen-Raum haben, schon lange eine mögliche Route in die EU. Aber im August 2021 veränderte sich die Situation radikal. Staatliche Akteure um den belarussischen Machthaber Alexander Lukashenko begannen, Menschen mit dem Versprechen der leichten Einreise in die EU anzuwerben. Nach ihrer Einreise nach Belarus wurden sie an die Grenze zu Polen gebracht und aufgefordert, diese zu überqueren. Dabei stießen sie auf den gewaltsamen Widerstand der polnischen Grenzbeamt*innen. Tausende Menschen schliefen in der Folge wochenlang draußen, irrten im Wald umher, wurden von Beamt*innen immer wieder in die jeweils andere Richtung getrieben. Von polnischer Seite wurde eine Sperrzone entlang der Grenze errichtet, die nur von Anwohner*innen betreten werden durfte. Journalist*innen, Unterstützer*innen und medizinisches Personal hatten keinen Zutritt. Die polnische Regierung stellte dies als Akt der Verteidigung der »christlichen Welt« dar.

Wie ist die Situation momentan?

Noch immer befinden sich viele Menschen in der Region und versuchen, die Grenze zu überwinden. Die vor einem Jahr beschlossene Grenzmauer ist mittlerweile fertig. Sie verläuft im nördlichen Teil der Grenze, während im Süden der Fluss Bug und eine Befestigung aus Stacheldraht die beiden Länder trennt. Die Sperrzone wurde diesen Sommer endlich aufgehoben, das heißt, man kann sich wieder frei in der Region bewegen. Aber die Militarisierung der Grenze führt nicht dazu, dass keine Menschen mehr diese Route zu nehmen versuchen, sondern nur dazu, dass es für sie gefährlicher wird. Bei den Menschen, denen wir versuchen zu helfen, sehen wir viele Verletzungen, oft Arm- oder Beinbrüche. Kürzlich kursierte ein Video, in dem ein Mann kopfüber an der fünf Meter hohen Mauer hängt, den Fuß in Stacheldraht verwickelt. Grenzbeamte stehen dabei und lachen.

Was erwartet Menschen, die es trotzdem nach Polen schaffen?

Das gelingt nur ganz wenigen. Im Oktober letzten Jahres hat die polnische Regierung Pushbacks, also das nach EU-Recht widerrechtliche Zurückschieben von Menschen, legalisiert. Seitdem können Menschen, die nach einem Grenzübertritt gefasst werden, direkt zurück nach Belarus gebracht werden, selbst wenn sie Asyl beantragen. Dabei sehen EU-Recht und internationales Recht vor, dass Menschen ein Recht darauf haben, dass ihr Asylantrag geprüft wird. Wer nicht direkt zurück nach Belarus geschoben wird, landet in der Regel in einem der Haftzentren, die in ganz Polen verteilt sind. Die Zustände dort sind miserabel, die medizinische und psychologische Betreuung ist absolut unzureichend. Smartphones mit Kamera sind verboten, sodass nur wenig Bildmaterial an die Öffentlichkeit gelangt. Die Gefangenen bekommen oft keine ihnen verständliche Information über ihren Verfahrensstatus und darüber, wie lange sie eingesperrt sein werden.

Sie sind in verschiedenen Unterstützungsnetzwerken aktiv. Wie können Sie Menschen unter diesen Umständen helfen?

Im Laufe des letzten Jahres haben sich gute solidarische Strukturen etabliert. Verschiedene Gruppen versuchen zum Beispiel, Menschen in akuten Notsituationen im Wald mit Lebensmitteln, medizinischer Versorgung und trockenen Schlafsäcken zu helfen. Es gibt Kontakte zu Anwält*innen, die in manchen Fällen intervenieren können. Manche von uns versuchen, Menschen in den Haftzentren zu unterstützen, etwa indem wir ihnen Smartphones ohne Kamera schicken. Tatsächlich gibt es einen Anbieter, der das herstellt.

Die polnische Regierung verfolgt eine rigorose und rassistische Politik gegen Flüchtende. Wie reagiert der Staat auf diese Unterstützungsarbeit?

Als der Krieg in der Ukraine begann, fuhren Menschen aus Polen und anderen europäischen Ländern an die Grenze, um Ukrainer*innen abzuholen und in sichere Unterkünfte zu bringen. Wenn man dasselbe an der belarussischen Grenze tut, droht eine Anklage wegen »Organisation des illegalen Grenzübertritts«. Dafür drohen bis zu acht Jahre Gefängnis. Mehrere Personen warten aktuell auf ihre Anklage. Dieses Vorgehen ist natürlich schockierend. Aber besonders traurig wird es, wenn man sieht, wie zeitgleich die Unterstützung für andere Flüchtende riesig zu sein scheint. Etwa eine Million Menschen sind aus der Ukraine nach Polen geflüchtet und werden zum Glück großzügig aufgenommen. Aber während Helfende hier als Nationalhelden gefeiert werden, werden wir, die Menschen aus Ländern des globalen Südens helfen, strafrechtlich verfolgt. Es tut weh, so direkt zu sehen, wie unterschiedlich der Wert von Menschenleben in der EU ist.

Kürzlich waren Sie mit anderen polnischen Aktiven in Deutschland und anderen Ländern unterwegs, um über die Situation zu berichten. Was war das Ziel?

Wir alle, die versuchen, fliehende Menschen in Polen zu unterstützen, sind erschöpft. Unsere Arbeit braucht viele Ressourcen, zeitlich und materiell. Wir wollten darüber informieren, dass die unhaltbare Lage fortbesteht, auch wenn sie nicht mehr viel Aufmerksamkeit erhält. Und wir wollten Menschen dazu ermutigen, nach Polen zu kommen und sich zu engagieren. Außerdem ging es uns natürlich auch darum, uns mit anderen Gruppen zu vernetzen. Die Situation an der belarussisch-polnischen Grenze ist ja keine Ausnahme in Europa, sondern schon fast die Regel. Pushbacks finden auf dem Balkan statt, in Griechenland und im Mittelmeer. Und überall organisieren sich Menschen, um dagegen anzukämpfen. Vernetzung ist deswegen sehr wichtig. Wir haben im Rahmen der Tour bereits viele tolle Menschen getroffen, von ihnen gelernt und sie an unseren Erfahrungen teilhaben lassen. Der Kampf gegen Grenzgewalt ist ein europäischer Kampf.

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