Der Zukunftskompass der Ampel

Die »Zukunftsstrategie Forschung und Innovation« befindet sich in Arbeit, die Zivilgesellschaft hat noch Kritik

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Weg in die Zukunft erscheint unklarer denn je. Auch die Wissenschaft ist davon betroffen. Hat sie einen Kompass, der zeigt, wo es hingehen soll und was realistisch erreichbar ist? Grundsätzliche Fragen dieser Art stellen sich gegenwärtig bei der Erstellung der »Zukunftsstrategie Forschung und Innovation«, an der im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gearbeitet wird. Was die Regierung vorgibt, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen formulieren Erwartungen an die künftige Ausrichtung von Forschung und Innovation in Deutschland.

334 Milliarden Euro wurden laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2020 in Deutschland für Bildung in Schulen, Wissenschaft in Hochschulen sowie Forschung und Entwicklung (FuE) in staatlichen Instituten und der Industrie investiert (2019: 329 Milliarden). Dieser Anteil von 9,9 Prozent am Bruttoinlandsprodukt kann als »Zukunftsinvestition« Deutschlands bezeichnet werden. Von den reinen FuE-Aufwendungen in Höhe von 105 Milliarden Euro kommt rund ein Fünftel aus den Ministerien und Anstalten der Bundesregierung, überwiegend aus dem BMBF. In welche Themenfelder diese Gelder langfristig fließen sollen, dafür soll die im Ampel-Koalitionsvertrag angekündigte »Zukunftsstrategie Forschung und Innovation« Leitlinie werden.

Zu den zentralen »Missionen« – den »großen gesellschaftlichen Herausforderungen« (Grand Challenges), die mit Hilfe der Forschung bewältigt werden sollen – hatte der Koalitionsvertrag bereits sechs Felder vorgegeben: moderne Technologien für Industrie und Verkehr, Klimafolgen und Biodiversität, ein modernes Gesundheitssystem, technologische Souveränität und Digitalisierung, die Erforschung und Nutzung von Weltraum und Meeren sowie gesellschaftliche Resilienz, Demokratie und Frieden.

Schon damals bestand bei den politischen Antipoden FDP und Grüne eine gewisse Spannung. Diese setzt sich auch im Entwurf für die »Zukunftsstrategie« fort, der zwar den »Aufbruch in ein Transformationsjahrzehnt« vollmundig deklariert, aber den Fahrplan dorthin mit Zwischenzielen und Prioritäten vermissen lässt. Zwar tauchen wieder, nur am Rande, forschungspolitische Streitpunkte wie die Fusionsforschung oder grüne Gentechnik auf. Aber auch neue Ansätze, die früher von der CDU-geführten Forschungspolitik weggeschoben wurden, haben Eingang in den Entwurf gefunden.

So ist unter dem Titel »Die Gesellschaft als Innovationstreiberin« ein ganzer Abschnitt den »sozialen Innovationen« gewidmet. Diese »neue« Stärke des deutschen Innovationssystems gelte es »noch deutlicher auszuschöpfen«, heißt es im Regierungstext. »Es eröffnen sich für den Transfer damit jedoch auch neue, andere und vielfach direktere Kanäle in die Anwendung und Verwertung.« Fast schon revolutionär wirkt es, wenn an anderer Stelle, wo es um die Genese neuer Forschungsthemen geht, den Vorschlägen von Bürgerseite das Tor geöffnet wird. Wörtlich heißt es: »Zudem fließen Impulse aus den Ergebnissen des IdeenLauf – #MeineFragefürdieWissenschaft aus dem Wissenschaftsjahr 2022 ›Nachgefragt!‹ in die Weiterentwicklung der Zukunftsstrategie ein.« Die Zukunftsstrategie sei eben als »lernende Strategie« angelegt, »die wir gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft kontinuierlich neu justieren und optimieren«. Ein großes Versprechen. Ob die Lordsiegelverwalter der großen Wissenschaftsorganisationen der Einführung plebiszitärer Elemente in die Aufstellung von Forschungsagenden zustimmen werden, darf eher bezweifelt werden.

In den letzten Wochen hat die fachinterne Debatte über die Zukunftsstrategie an Fahrt gewonnen. Über 60 Stellungnahmen aus Wissenschaft und Wirtschaft gingen im November beim federführenden Bundesministerium für Bildung und Forschung ein. Auch Organisationen der Zivilgesellschaft und Öko-Verbände waren dabei, deren Positionen in der Vergangenheit bei der »Forschungszukunftsplanung« meist unter den Tisch fielen.

»Transformation? Fehlanzeige.« So kommentierte jedenfalls Steffi Ober vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu) den ersten Entwurf der Strategie, der Ende Oktober veröffentlicht wurde. Vom Versprechen des Koalitionsvertrags, Visionen und Ideen für eine lebenswerte Zukunft mit Hilfe von Forschung und Innovation zu entwickeln, sei in dem Papier nichts zu spüren. Es bleibe vielmehr in »der alten Logik stecken«, die darauf ausgerichtet sei, vor allem die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft zu stärken. »Dabei verkennt diese Zukunftsstrategie völlig, dass eine ungebremste Klimakrise und der Verlust der Biodiversität unseren Wohlstand komplett vernichten werden«, moniert die Sprecherin der zivilgesellschaftlichen Plattform »Forschungswende«. An dieser Stelle räche sich laut Ober »nicht nur der völlige Mangel an Transformationsforschung, sondern auch der Unwille der Politik, sich ernsthaft mit der notwendigen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu beschäftigen«.

In gleicher Weise hält der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) die Nutzung »zivilgesellschaftlich fundierten Wissens für die Lösung kommender sozial-ökologischer Transformationskonflikte notwendig«. Und zwar nicht nur, weil dieses Wissen dabei helfen könne, die anstehenden »Verteilungsfragen besser zu begreifen«, sondern auch um »die Wirtschaftsaktivitäten oder Infrastrukturen ressourcenschonender« zu gestalten. Vom Naturschutz zur Kreislaufwirtschaft.

Auch der Verbund von acht Instituten aus der Nachhaltigkeits- und Zukunftsforschung »Ecornet« fordert, dass der Fokus »vorrangig auf Minderung der Klimakrise, Schutz von Biodiversität, Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der Daseinsvorsorge sowie globaler Gerechtigkeit« gelegt werden solle. »Die Zukunftsstrategie sollte partizipativer ausgerichtet werden«, erklärte Klima- und Energieforscherin Camilla Bausch, Direktorin des Ecologic Instituts und Sprecherin von Ecornet.

Noch sei unklar, wie die Strategie weiter ausgearbeitet werden solle. »Wir empfehlen einen transparenten Prozess und eine öffentliche Debatte unter Einbindung von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft«, so Bausch. Zwar gebe es im Entwurf Ansätze zur Partizipation. Doch ziele dieses Verständnis von Beteiligung »häufig allein darauf, Akzeptanz zu schaffen und Risikoaversionen in der Gesellschaft zu überwinden«.

Für eine stärkere Öffnung des Forschungsprozesses, gerade bei der Nutzung von Forschungsdaten, sprach sich das zivilgesellschaftliche »Bündnis F5« aus, dem unter anderem die Organisationen Algorithmwatch, Gesellschaft für Freiheitsrechte, Open Knowledge Foundation und Wikimedia Deutschland angehören. Im bisherigen Entwurf fehlten »Ansätze für offene und transparente Forschung«, wird moniert. »Open Science meint die Offenlegung von Theorien, Methoden, Anwendungsfeldern und Ergebnissen, Rohdaten und Zwischenergebnissen.« Dies erleichtere den Erkenntnisgewinn in einer Disziplin und den interdisziplinären Austausch über Fachgrenzen hinweg.

Anfang 2023 soll die Strategie regierungsamtlich fertig sein. Dann steht für die Zivilgesellschaft der nächste Partizipationsprüfstein an. Es geht darum, ob ihre Vertreter genauso wie die Organisationen der Wissenschaft und der Wirtschaft Sitz und Stimme im Begleitgremium für die Zukunftsstrategie, dem »Zukunftsforum«, haben werden oder nicht. In der vergangenen Legislaturperiode wurde die Zivilgesellschaft bei der politischen Zukunftsgestaltung an den »Katzentisch« verbannt und nur zu einzelnen Veranstaltungen eingeladen, aber nicht zu den Beratungen des Hauptgremiums. Dies sollte beim neuen Durchlauf anders werden.

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