Russland zwischen Auf- und Abschwung

Reaktionen auf westliche Sanktionen stabilisieren die Konjunktur

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Explosionen hatten im September in der Nähe der dänischen Ostseeinsel Bornholm vier Lecks in die beiden Pipelines Nord Stream 1 und 2 gerissen. Das martialische Aus für die Ostseeleitungen stand symbolisch für das Aus des russischen Geschäftsmodells. Doch es kam anders. Zwar hat das Land 2022 einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlitten. Aber zu den von westlichen Ökonomen prognostizierten zweistelligen Verlusten kam es nicht. Im vergangenen Jahr sank laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die Wirtschaftsleistung lediglich um 2,2 Prozent. Noch im Oktober hatte der IWF eine weit schlechtere Entwicklung erwartet. Für 2023 wird nun sogar ein Wachstum von 0,3 Prozent vorhergesagt. Damit würde Russland stärker wachsen als Deutschland.

Trotz – oder wegen – einer Vielzahl internationaler Sanktionen wächst Russlands Wirtschaft erstaunlich stark. Der Exportüberschuss ist groß, die Arbeitslosigkeit niedrig. So erholte sich die Industrie schneller vom Corona-Schock als lange angenommen, wohl auch als Reaktion auf westliche Exportbeschränkungen. Seit der Jahresmitte 2022 hat sich die russische Industrieproduktion von ihrem starken Rückgang im Verlauf des ersten Halbjahres erholt. Saisonbereinigt ist die Industrieproduktion nach Berechnungen der staatlichen Wneschekonombank (WEB) im Oktober, November und Dezember jeweils gegenüber dem Vormonat gestiegen.

Ein Grund für die steigende Produktion dürften erhöhte Rüstungsausgaben des Staates sein. Stimulierend auf die ganze Volkswirtschaft wirkt die ausgabefreudige Politik von Ministerpräsident Michail Mischustin und seiner Regierung, welche etwa durch Erhöhungen der Renten die Nachfrage der 145 Millionen Einwohner anregt. Auch Ausgaben des sogenannten Wohlfahrtsfonds, der in der Spitze nach Angaben des Finanzdienstleisters Fidelity umgerechnet 197,7 Milliarden US-Dollar umfasste, kurbeln die Konjunktur an. Das Geld stammt überwiegend aus Einnahmen der staatlichen Öl- und Gasindustrie.

Neue Kunden außerhalb des Westens halfen, die Wirtschaft zu stabilisieren. Indem es den Handel »von sanktionierenden zu nicht-sanktionierenden Ländern« umleitete, wie es IWF-Ökonomin Koeva Brooks formuliert. Als ein wichtiges Puzzle-Stück gilt das Verhältnis des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping. Auch Indien importiert jetzt laut Medienberichten deutlich mehr russisches Erdöl und Gas. Selbst, wenn die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde einen Freundschaftspreis erhalten haben dürften, hat Russland von den – infolge der westlichen Sanktionen – gewaltig gestiegenen Preisen für fossile Brennstoffe profitiert.

Dazu trugen auch die Erdölexportierenden Staaten (Opec) bei, die sich weigerten, ihre Fördermengen zu erhöhen, um die Preise zu dämpfen. Dies führte in Deutschland zu der paradoxen Situation, dass die aus Russland importierte Warenmenge 2022 um 41,5 Prozent zurückging, wertmäßig aber um 6,5 Prozent auf 35,3 Milliarden Euro stieg, wie das Statistische Bundesamt am Freitag meldete. Von rasant steigenden Preisen profitierte Russland ebenfalls bei einigen Industrierohstoffen, bei Weizen und anderen Agrarprodukten, mit denen das Land auf dem Weltmarkt eine führende Rolle spielt.

Nach Angaben des Informationsdienstes Energy Intelligence, die auf Daten des russischen Energieministeriums beruhen, sind die Rohölexporte Russlands im Januar deutlich gestiegen. Die Pipeline-Mengen, die in der Vergangenheit vor allem nach Deutschland und Polen flossen, werden zumindest teilweise umgeleitet und per Schiff exportiert. Wichtigster Abnehmer nach China und Indien ist die Türkei. Das Nato-Land beteiligt sich nicht an Embargo und Preisdeckel. So ist die türkische Warenausfuhr nach Russland in den zurückliegenden Monaten sprunghaft angestiegen. Plötzlich ist Russland – nach Deutschland – die Nummer zwei in der Exportrangliste.

Anders als der IWF erwartet das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) nicht, dass Russlands Wirtschaft 2023 wächst. Österreich gilt als Drehscheibe zwischen West und Ost, und die Wiener Forscher konzentrieren sich auf osteuropäische Ökonomien. »Die am 5. Dezember in Kraft gesetzten Sanktionen sind die effizientesten, die bisher verhängt wurden«, sagt WIIW-Russland-Experte Wasilij Astrow. Diese würden zeitverzögert wirken und russisches Öl müsse mit einem enormen Preisabschlag verkauft werden. Längerfristig könnte auch nach Meinung des IWF das westliche Exportverbot für Hochtechnologie Wirkung zeigen und das Wachstum bremsen. Wie groß die Ungewissheit selbst in Russland letztlich ist, zeigt eine Umfrage der Zentralbank in Moskau unter Banken. Die Prognosen für das Wirtschaftswachstum liegen zwischen minus 6,5 Prozent und plus 0,4 Prozent. Die IWF-Voraussage liegt also am oberen Rand der Erwartungen.

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