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Tunesien jagt Schutzsuchende

Präsident Kais Saied macht Ausländer für seine misslungene Wirtschaftspolitik zum Sündenbock

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Zentrale der Organisation für Migration in Tunis ist für Menschen aus Sub-Sahara-Afrika zum Zufluchtsort geworden.
Die Zentrale der Organisation für Migration in Tunis ist für Menschen aus Sub-Sahara-Afrika zum Zufluchtsort geworden.

Zwei Wochen nachdem Präsident Kais Saied in einer Rede vor dem Nationalen Sicherheitsrat den illegalen Migranten in Tunesien mit Ausweisung gedroht hatte, eskaliert die politische und finanzielle Krise. Der Juraprofessor hatte am 21. Februar Generäle und Beamte verschiedener Ministerien vor einer Verschwörung gegen Tunesien gewarnt, die das Ziel habe, den Islam und die arabische Identität Tunesiens zurückzudrängen. In den Wochen zuvor hatte bereits die »Nationale Partei Tunesiens«, ein Medienprojekt von drei konservativen Aktivisten, von einem »großen Bevölkerungsaustausch« gesprochen, den einige Länder Europas mithilfe der meist aus Westafrika kommenden Migranten angeblich betreiben.

Was viele Tunesier zunächst als harmloses, weil offenkundig populistisches Ablenkungsmanöver von der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise im Land abtaten, wurde mit der Rede von Saied auch in staatlichen Medien salonfähig.

Massenverhaftungen durch die Polizei

Noch bevor der Präsident die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates anwies, die Illegalen im Land aufzuspüren und der Migration nach Tunesien ein Ende zu setzen, fuhren in den Hauptstadtvororten Ariana und La Soukra Mannschaftstransporter der Polizei auf. Die im Zentrum von Tunis meist als Putzfrauen oder als Servicekräfte arbeitenden Migranten wurden nach Geschäftsschluss aus Straßenbahnen und Bussen heraus verhaftet. Nach zwei Tagen saßen bereits mehr als 3000 Migranten in Abschiebehaft, viele trotz einer Aufenthaltsgenehmigung. Anders als es die Behörden behaupten, wurde auch bei den meist nachts durchgeführten Hausdurchsuchungen oft nicht zwischen legal und illegal in Tunesien lebenden Migranten unterschieden. 25 000 sollen es insgesamt sein.

Obwohl die Polizei wegen der bereits überfüllten Gefängnisse die Kampagne mittlerweile beendet hat, greifen nun Nachbarn, Jugendgangs und manchmal sogar Schulkinder dunkelhäutigen Menschen aus Subsahara-Afrika auf offener Straße an. »Wir haben uns seit der Rede von Kais Saied nicht mehr auf die Straße getraut«, sagt Eric Zewolo aus Liberia. Der 25-Jährige übernachtet seit einigen Tagen vor der Zentrale der Organisation für Migration (IOM) in Tunis. »Auf der Straße fühlen wir uns nicht mehr sicher und auch hier fahren nachts Unbekannte vorbei und beschimpfen uns.«

Tunesische Menschenrechtsorganisationen fordern ein Ende der Gewalt und kritisieren, Saied würde die latenten Vorurteile gegen Menschen aus Subsahara-Afrika in Hass verwandeln. Auf der Flaniermeile Avenue du Bourguiba demonstrierten vergangene Woche über 1000 Menschen für die Solidarität mit den »afrikanischen Schwestern und Brüdern«. Am Wochenende kamen dann mehrere Tausend Anhänger der landesweit größten Gewerkschaft UGGT zusammen und forderten den Rücktritt von Kais Saied. Aufgrund seines Rufs der Unbestechlichkeit und seiner kritischen Haltung gegenüber den politischen Parteien und Eliten war Saied 2019 mit großer Mehrheit gewählt und sogar für seinen Putsch gegen Parlament und Regierungen zwei Jahre später gelobt worden.

Regierung ignoriert Forderungen des IWF

Doch zu der aktuellen Wirtschaftskrise fallen dem Juraprofessor nicht mehr als Wutreden gegen seine Gegner und die grassierende Korruption ein, konkrete Reformen blieben bisher aus. Die von Saied eigenmächtig eingesetzte Regierung von Premier Najla Bouden versucht, mit einem Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) die mittlerweile stark gefährdete Zahlungsfähigkeit Tunesiens zu retten. Doch statt die vom IWF geforderte Einigung mit Gewerkschaften, Parteien und dem Arbeitgeberverband über Reformen zu diskutieren, ließ Saied Rechtsanwälte, Richter und Mitglieder der moderaten Islamistenpartei Ennahda verhaften. Der Leiterin der Nationalen Versöhnungsinitiative wurde vor einem geplanten Flug nach Paris mitgeteilt, sie dürfe das Land nicht verlassen.

Doch die Empörung über viele ähnliche Fälle ist seit der Verhaftungswelle gegen Migranten verstummt. Zunächst erhielten Saied und der ihn unterstützende Staatsapparat vor allem aus ärmeren Gegenden von Tunis und den Hafenstädten Sfax und Zarzis Beifall für das harte Durchgreifen gegen die angeblich durch die Migranten gestiegene Kriminalität. Vor allem dort leben die Migranten aus Subsahara-Afrika, die zwar fast ausnahmslos eine Arbeit und Wohnung, aber keinen Aufenthaltsstatus haben.

»Auf der Straße wurden wir mit Steinen beworfen, die Möbel unserer angemieteten Wohnung wurden verbrannt«, sagt Natascha Tomy aus Sierra Leone dem »nd« in Tunis. Auch die junge Mutter wartet vor dem IOM-Hauptquartier auf eine Beruhigung der Lage. Die Elfenbeinküste, Mali und Guinea haben mit der Rückholung ihrer Bürger per Flugzeug begonnen. Sierra Leone, Nigeria und andere Länder verlangen von den tunesischen Behörden bisher nur, ihre oft als Studenten eingereisten Bürger korrekt zu behandeln.

Afrikanische Union kritisiert Gewalt

Die zahlreichen Augenzeugenberichte von Rassismus und progrom-ähnlichen Szenen gegen Menschen aus Subsahara Afrika haben zu scharfer Kritik der Afrikanischen Union geführt. Kais Saied trat der weltweiten Empörung schließlich mit einer beschwichtigenden Rede entgegen. Alle legal im Land lebenden Afrikaner seien willkommen, so der Präsident, verschwieg jedoch, dass es oft die bürokratischen Hürden und fehlenden Asyl-Gesetze sind, die viele Migranten zu Illegalen machen. Am Montag legte die Weltbank ihre Verhandlungen mit Tunesien vorerst auf Eis. Der erhoffte IWF-Kredit verzögert sich dadurch möglicherweise. Innenminister Taoufik Charfeddine ließ daraufhin seiner Wut freien Lauf. Medien, die über die angeblich erfundenen Übergriffe gegen Migranten berichten, seien »Söldner fremder Mächte«, so Charfeddine, ebenso wie Gewerkschaften und Geschäftsleute, die Saied kritisieren.

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