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Habeck in der Ukraine: »Brutal viel Geld«
Vizekanzler Habeck und eine Wirtschaftsdelegation begutachten Investitionsbedingungen in der Ukraine
Die Zugverbindung nach Kiew ist in den vergangenen Monaten so oft genutzt worden von deutschen Politiker*innen, dass untergegangen sein könnte: Vizekanzler Robert Habeck hat die Ukraine noch nicht besucht, seit er im Amt ist. Besser gesagt: hatte. Denn der »späte Ukraine-Reisende« (Deutsche Presse-Agentur) zog nun nach: Habeck traf vor Ort am Montag den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, besichtigte das Dorf Jahidne, das vor einem Jahr von russischen Soldaten überfallen und besetzt worden war. Er ließ sich zudem ein Umspannwerk und ein Krankenhaus zeigen. Am Dienstag sprach Habeck unter anderem mit Regierungschef Denys Schmyhal.
Begleitet wurde er von einer Wirtschaftsdelegation, zu der etwa der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, gehörte; ebenso sollen eine Vertreterin der staatlichen Förderbank KfW und nicht näher bestimmte Manager mit von der Partie gewesen sein. Man habe auch konkrete Investitionsversprechen im Gepäck gehabt, sagte Habeck am Montagabend selbstbewusst im »Heute-Journal« des ZDF: Der deutsche Pharma- und Chemiekonzern Bayer werde 60 Millionen Euro in der Ukraine anlegen, offenbar in einer bereits existierenden Saatgutaufbereitungsanlage im ukrainischen Pochuiky. Die ebenfalls schon in der Ukraine »aktive« Baustofffirma Fixit plane laut Habeck, ihre Kapazitäten in der Produktion »quasi (zu) verdoppeln«. Dafür erhalten die Unternehmen Investitionsgarantien, also: staatliche Absicherungen. Werde etwa das Fabrikgebäude eines deutschen Unternehmens durch Kriegshandlungen zerstört, »garantiert oder haftet der deutsche Staat«. Solche Garantien sind in Kriegsgebieten unüblich.
Doch Europa habe ein Interesse daran, »nicht nur in der Not zu unterstützen, sondern dass die Ukraine auch ein wirtschaftlich starker Partner in der Zukunft sein wird«, erläuterte Habeck. Starker Partner – das soll vermutlich nach Augenhöhe klingen. Diese gäbe es allerdings selbst dann nicht, wenn die Ukraine nicht in weiten Teilen vom Krieg zerstört wäre. Das Land ist extrem abhängig von seinen »Partnern«, unter anderem ist es hoch verschuldet, wie erst vor wenigen Tagen im »Schuldenreport 2023« problematisiert worden war. Solche ohnehin bestehenden Abhängigkeiten nehmen durch den Krieg noch zu. Zu wessen Bedingungen wird ein von deutschen Unternehmen mitgetragener Wiederaufbau also stattfinden? Um die dafür nötigen hohen Summen – laut Habeck »brutal viel Geld« – aufzubringen, müsse »ein Dreiklang geschaffen werden«, so der Wirtschaftsminister: Gute Investitionsbedingungen seitens der Ukraine, es müsse Garantien von öffentlicher Hand geben und das private Kapital müsse in die Ukraine wollen.
Will es? Einige »Investitionsbedingungen« dürften in der Tat »attraktiv« sein, gerade wenn zusätzlich, wie am Montagabend erklärt, Risiken über staatliche Haftungen abgefedert werden. Der Durchschnittslohn in der Ukraine lag beispielsweise vor dem Krieg schon bei nur 50 Prozent des Durchschnittslohnes in Bulgarien, dem Land mit den niedrigsten Gehältern innerhalb der EU. Das ist einer der oft übersehenen Gründe dafür, warum sich viele Ukrainer*innen einen EU-Beitritt wünschen: Sie hoffen auf höhere Standards beim Arbeitsschutz und höhere Löhne. Der Trend aber weist in die andere Richtung: Eine Aufnahme des Landes in die Union wird es in nächster Zukunft nicht geben. Und seit Kriegsbeginn brachte die Selenskyj-Regierung einige arbeiterfeindliche Reformen durchs Parlament, mit denen – gegen den Protest ukrainischer und internationaler Gewerkschaften – der Arbeitsmarkt extrem dereguliert wurde. Auch Streiks sind unter dem Kriegsrecht verboten. Arbeiter*innen in der Ukraine gehörten zu den »schutzlosesten in Europa«, hatte der Soziologe Volodymyr Artiukh schon vor etwa einem Jahr gewarnt. Die Nachfrage, ob bei der deutschen Wirtschaftsstippvisite Arbeitnehmerrechte oder ein umfassender Schuldenerlass für die Ukraine eine Rolle spielten, ließ das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Dafür wurde neben »Wiederaufbau« als zweites Schlüsselwort zur Habeckschen Reise die »Energiewende« lanciert. Die Ukraine bezieht über 90 Prozent ihrer Energie aus Kohle, Gas und Atomanlagen, wobei sowohl das größte Kernkraftwerk des Landes, Saporischschja, wie auch die großen Kohlefördergebiete im Osten unter russischer Besatzung stehen. Daher solle nun dezentralisiert und dekarbonisiert werden, so Habeck. Auch im Bereich Energie werde die »Partnerschaft« mit der Ukraine neu aufgestellt. Formal besteht diese bereits seit 2020.
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