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»The Five Devils« im Kino: Wer seltsam ist, muss leiden

In ihrem Spielfilm »The Five Devils« erzählt Léa Mysius von einem Mädchen, das Gerüche reproduzieren kann

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Durch Gerüche kann sich Vicky (Sally Dramé) an Begebenheiten erinnern, bei denen sie nicht dabei war.
Durch Gerüche kann sich Vicky (Sally Dramé) an Begebenheiten erinnern, bei denen sie nicht dabei war.

Coming-of-Age-Filme gibt es zahllose. Die Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenwerden ist ein wundervolles Sujet, wenn man etwas über die Welt der Erwachsenen erzählen will und über die, die noch nicht oder eben noch nicht ganz Teil dieser Welt sind. »Fünf kurze Jahre zwischen dem 13. und dem 18. Lebensjahr – mehr Zeit lässt uns die über Lohnarbeit vergesellschaftete Zivilisation nicht, den Verstand auszuprobieren und zu entwickeln«, hat der Schriftsteller Dietmar Dath einmal behauptet, »und ausgerechnet in dieser Phase bringt dann der Sexualkrempel alles durcheinander«. Das sei so tragisch wie witzig.

Einen der schönsten Coming-of-Age-Filme der letzten Jahre – neben dem 2022 alles überstrahlenden »Aftersun« – hat Léa Mysius 2017 mit »Ava« gedreht. Ihr zweiter Film spart nun die Coming-of-Age-Phase gerade aus, zuerst zumindest, und setzt sie dann doch wieder ins Zentrum. Der titelgebende Ort Les Cinq Diables (The Five Devils) ist ein etwas David-Lynch-artig, immer etwas bedrohlich anmutendes Bergdorf. Hier lebt die achtjährige Vicky (Sally Dramé) zusammen mit ihrer Mutter Joanne (Adèle Exarchopoulos) und dem neben der Familie eher halb beteiligt herlaufenden Vater Jimmy (Moustapha Mbengue). Vicky wird an der Schule gemobbt, wegen ihres Afros und vielleicht auch einfach, weil ihr Vater Schwarz und ihre Mutter weiß ist. Außerdem verhält das Mädchen sich wunderlich. Sie kann Gerüche reproduzieren, die sie dann in Gläsern aufbewahrt. Den ihrer Mutter zum Beispiel. Das fällt ihren Mitschüler*innen auf, und wer seltsam ist, muss leiden.

Vicky hat das Erwachsenwerden noch vor, Joanne hat es bereits hinter sich. Zwischen den beiden liegt undeutlich eine irgendwie dunkle Vergangenheit Joannes, ein Geheimnis. Das Coming-of-Age ist hier vorerst als eine Leerstelle präsent, die Vergangenheit der Mutter, die sich das Kind erschließt, das wie alle Kinder wissen will, wie die Beziehungen der Erwachsenen sich gestalten und funktionieren.

Durch Gerüche kann sich Vicky, in heftigen Proust-Momenten, an Begebenheiten erinnern, bei denen sie nicht dabei war. Zum Beispiel an die Vergangenheit der Schwester ihres Vaters, Julia (Swala Emati), die nach einem längeren Aufenthalt in der Psychiatrie zurück in ihren Heimatort kehrt. Und an den damaligen »Sexualkrempel« ihrer Tante und ihrer Mutter.

Die Atmosphäre, die Mysius in der Konstruktion dieses zugleich erdrückend kleinbürgerlichen wie auch mystisch-offenen Ortes erzeugt, trägt einen durch den Film. Das Traumhafte verleiht diesen Bildern etwas seltsam Flüchtiges. Obwohl es um gewichtige Dinge geht: eine Liebe jenseits dessen, was als Normalität gelten soll, die Geheimnisse, die man vor den Kindern hat und haben muss, ein Brand.

Alles erzählt »The Five Devils« nicht in Form eines eindeutigen Plotverlaufs, sondern in ausfransenden Szenen, die ihre Kraft eben aus dem Atmosphärischen beziehen. Das zentrale Ereignis und die zentrale Beziehung in der Jugend Joannes klären sich erst am Ende auf. Der Blick des Kindes auf die Vergangenheit der Mutter enthüllt die Versäumnisse und das Unglück der Eltern. Wie schon in »Ada« sind die Figuren einerseits unkonventionell gebaut, aber eben nicht einfach, um von Außenseiterinnen und wundersamen Menschen zu erzählen, sondern um in der Abweichung etwas universell Gültiges zu finden: den Verlust von Lebendigkeit, weil man die Liebe, die man leben wollte, nicht leben durfte; die Vergangenheit, die nicht vergehen will und bis heute und immer weiter nach der Gegenwart greift; die Enge und das Tödliche des Kleinstadtlebens. Ein wundervoller Film, alles in allem.

»The Five Devils«: Frankreich 2022. Regie und Buch: Léa Mysius. Mit: Sally Dramé, Adèle Exarchopoulos, Moustapha Mbengue, Swala Emati. 96 Min. Start: 13. April.

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