Wenn aus Macht Missbrauch wird

Menschen mit Behinderung sind in Einrichtungen einem hohen Risiko sexualisierter Gewalt ausgesetzt

Vergangene Woche hat am Berliner Landgericht ein Prozess gegen einen Heilerziehungspfleger wegen sexuellen Missbrauchs begonnen. Der 34-Jährige arbeitete in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung und soll dort innerhalb von zwei Jahren gegen sechs Bewohner*innen 71 Mal übergriffig geworden sein. Seit knapp acht Monaten sitzt der Angeklagte in Untersuchungshaft, der Prozess wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit vier weiteren Prozesstagen bis zum 4. Mai weitergeführt.

Die Anklage liest sich erschreckend: Der Mann war bereits wegen Besitz und Verbreitung kinderpornografischer Schriften vorbestraft, trotzdem konnte er bis August 2022 mehrere Personen der Wohngruppe in Biesdorf systematisch missbrauchen. Die mutmaßlich Betroffenen sollen wegen ihrer Beeinträchtigungen »allenfalls eingeschränkt« in der Lage gewesen sein, sich gegen den Missbrauch zu wehren, so die Staatsanwaltschaft.

Ein derartiges Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Bereich der Pflege und Assistenz ist kein Einzelfall. Dass immer wieder Missbrauchsfälle in Einrichtungen publik werden, zeuge von einem »Strukturproblem«, so Martina Puschke. Sie setzt sich mit der Organisation Weibernetz für Präventionsmaßnahmen ein, die insbesondere Frauen mit Behinderung vor sexualisierter Gewalt schützen sollen.

Bisher kann sich Puschke nur auf eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2012 beziehen. Damals sagte fast die Hälfte der Befragten mit Beeinträchtigung, die in Einrichtungen leben, bereits gewaltvolle Übergriffe erlebt zu haben. »Das liegt an dem Machtgefälle«, so Puschke. Die Bewohner*innen seien auf externe Hilfe angewiesen und würden zugleich nicht ausreichend über ihre Rechte informiert. »Wenn ich nicht einmal mitentscheiden darf, wann am Tag gegessen wird, wenn ich also sowieso schon derart in meiner Selbstbestimmung eingeschränkt bin, wie groß kann dann mein Selbstbewusstsein sein, einen Übergriff zu erkennen und der Gruppenleitung mitzuteilen?«, schildert Puschke die gefährliche Dynamik in Wohnheimen oder -gruppen. »Und dann gibt es Personal, das diese Situation ausnutzt.«

Workshops zum Empowerment der Bewohner*innen sollten in Puschkes Augen fester Bestandteil von Gewaltschutzkonzepten seien. Seit 2021 sind solche Konzepte vorgeschrieben, doch wie sie aussehen, ist den Einrichtungen bisher selbst überlassen. »Wir brauchen da Mindeststandards, um wirklich eine Gewaltschutzkultur aufzubauen. Das kann nicht nur von oben herab passieren, sondern muss partizipativ ablaufen. Es hilft nichts, wenn ein Gewaltschutzkonzept in der Schublade liegt.«

Wichtig wären zudem Schulungen für das Personal, mehr Mitbestimmungsrechte von Frauenbeauftragten in den Einrichtungen und ein selbstkritischer Umgang mit übergriffigen Situationen. »Wir brauchen eine Kultur, wo es nicht als Anschwärzen gilt, bei Grenzüberschreitungen direkt das Gespräch mit den Kolleg*innen zu suchen.«

Doch Gewaltschutz sollte nicht nur in den Händen der meist privaten Träger liegen. Das Weibernetz fordert seit Langem eine unabhängige Kontroll- und Beschwerdeinstanz, wie sie auch die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. »Momentan gibt es nur die Heimaufsicht, die die Einhaltung der Regularien prüft«, so Puschke. Dabei werde aber nicht nach Gewaltprävention gefragt, »das ist auch nicht ihre Aufgabe«. Bewohner*innen bräuchten aber eine Stelle, an die sie sich bei Übergriffen wenden könnten, »das ist momentan total unklar«.

Schlechte Arbeitsbedingungen und Personalmangel trügen zusätzlich dazu bei, dass Missbrauch über Jahre hinweg nicht gemeldet werde: »Wenn es um die tägliche Versorgung und die Einhaltung der Alltagsstrukturen geht, fallen so Sachen wie Gewaltschutz schnell hinten rüber.«

Der Großteil dieser Forderungen betrifft bundesrechtliche Regelungen. Aber auch auf Landesebene gebe es Stellschrauben, betont Tobias Schulze, pflegepolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Für die Heimkontrollen liege die Umsetzung bei den Bezirken, »aber die sind finanziell vom Land nicht gut genug ausgestattet«. Dabei brauche es in seinen Augen viel mehr Kontrollen, um zumindest die Qualität der Pflege zu überwachen. »Das heißt nicht, dass man jeden Missbrauchsfall verhindern kann, aber man kann zumindest die Betreiber darauf aufmerksam machen, dass sie unter Beobachtung stehen.«

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