Gastfreundschaft und Freiheit

Guernsey ist eine ganz besondere Insel mitten im Ärmelkanal

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 9 Min.
Bilderrahmen am »Renoir Walk« geben den Blick auf Motive frei, die der Künstler malte.
Bilderrahmen am »Renoir Walk« geben den Blick auf Motive frei, die der Künstler malte.

Zugegeben, der Vergleich mit Lummerland ist ein wenig weit hergeholt, handelt es sich bei Guernsey doch nicht um »eine Insel mit zwei Bergen«, vielmehr um eine mit vielen steilen Auf- und Abstiegen, aber so ein bisschen Lummerland-Gefühl schleicht sich schon ein, wenn man sich auf dem nur rund 63 Quadratkilometer kleinen Eiland umschaut: Wie Lummerland, »irgendwo im weiten Ozean«, ist Guernsey, ein freundliches, kleines Land mitten im Ärmelkanal zwischen Großbritannien und Frankreich gelegen, und doch weder dem einen noch dem anderen zugehörig. Wenngleich Guernsey, zu deren Verwaltungsbereich noch einige andere kleine Kanalinseln gehören (wie Lummerland), seine eigene Regierung und eigene Gesetze hat, ist das Eiland nicht wirklich unabhängig, sondern eine »Crown Dependency« (Kronbesitz), was heißt, dass die Insel unter Verantwortung der britischen Krone steht und King Charles mit seiner heutigen Krönung auch offizielles Staatsoberhaupt von Guernsey wird. Für ihn verbindet sich die Insel mit schönsten Jugenderinnerungen, kam er doch gern mit Freunden zum Surfen hierher, fühlte sich frei, ungezwungen und unbelästigt von Gaffern oder Paparazzi. Wenn er künftig auf der Insel vorbeischaut, wird sich der Gouverneur, der von der Krone ernannte Vertreter für Guernsey, mit allen protokollarischen Pflichten um den König kümmern. Dazu gehört auch, den Monarchen in seinem eigenen Wohnhaus zu beherbergen und zu bewirten, so wie es seit Jahrhunderten Brauch ist. Ansonsten hat der Gouverneur nicht viel zu tun oder zu sagen. Die Regierungsgeschäfte werden vom »Bailiff« (Vogt) geführt, dem ebenfalls von der Krone ernannten Präsidenten des königlichen Gerichtshofes, der als höchster Richter der Insel fungiert – und mit Beginn der Rente automatisch abtreten muss. Dass der Bailiff ein Mann sein muss, war jahrhundertelang wie in Stein gemeißelt. Bald aber wird sich das ändern. Denn obwohl auf Guernsey in mancherlei Hinsicht an alten Traditionen festgehalten wird, lässt sich der Fortschritt auch hier nicht aufhalten. Erstmals steht mit Jessica Roland eine Frau in den Startlöchern, denn der jetzige Bailiff nähert sich dem Ruhestand.

Reiseinfos
  • www.visitguernsey.com
  • Anreise: Mehrere Airlines fliegen von Deutschland nach Birmingham, Bristol, Dublin, London-Gatwick, Manchester oder Southampton. Von dort geht es mit der inseleigenen Fluggesellschaft Aurigny weiter nach Guernsey, www.aurigny.com.
  • Victor Hugos Wohnhaus: www.maisonsvictorhugo.paris.fr/en/museum
  • Renoir-Walk: www.artforguernsey.com/renoir
  • Tipp: Anlässlich des 140. Jahrestages des Aufenthaltes Renoirs auf der Insel wird es hier vom 30. September bis 15. Dezember die weltweit einzige Austellung im Jahr 2023 zum Leben und Schaffen des Künstlers geben. Erstmals werden auch alle Gemälde zu sehen sein, die er im Sommer 1883 hier malte.

    Darüber freut sich auch Gaby Betley, eine Deutsche, die vor 36 Jahren für ein Jahr als Au Pair nach Guernsey kam, sich zunächst in die Insel und dann in einen Insulaner verliebte und für immer blieb. Gaby ist inzwischen selbst so etwas wie ein wandelndes Geschichtsbuch über Guernsey und »liest« ihren Gästen gern daraus vor. Zum Beispiel davon, dass es hier außer einer 20-prozentigen jährlichen Einkommenssteuer, die ab einem Einkommen von 10 000 Guernsey-Pfund erhoben wird, absolut keine weiteren Steuern gibt. »Bei uns reicht wirklich ein Bierdeckel für die Steuererklärung«, sagt sie. »Hier gibt es auch keine Parteien, braucht’s auch nicht. Denn jeder kennt jeden, und man weiß, wem man vertrauen kann.«

    Obwohl Guernsey nur etwa 65 000 Einwohner hat, soll es fast 30 000 Autos geben. »Die haben als Kennzeichen fortlaufende Nummern, die man auch bei einem Fahrzeugwechsel behält«, sagt Gaby. »Es sei denn, man verkauft das Kennzeichen. Je niedriger die Zahl, desto begehrter ist es.« Manche geben für dieses merkwürdige Statussymbol sehr viel Geld aus, für eine einstellige Nummer bis zu 150 000 Pfund. »Die 007 ist vor Jahren gar für 224 000 Pfund versteigert worden«, erinnert sie sich. »Auch eine Art, nach außen zu zeigen, wie reich man ist. Und es gibt, dank unseres Steuersystems, viele Reiche auf Guernsey.«

    Das war nicht immer so, einst lebten die Menschen hier von Ackerbau und Fischfang. Als dann im 17. Jahrhundert Schiffsbesitzer begannen, Handelsschiffe von Frankreich und anderen Feinden Englands anzugreifen, wurde Schmuggel für einige zu einer einträglichen Erwerbsquelle. Ausgerüstet mit »Kaperbriefen« vom englischen König, machten sie große Gewinne aus der so praktisch legalisierten Piraterie. St. Peter Port, die heutige Inselhauptstadt, entwickelte sich zu einem riesigen Umschlagplatz für Wein und Schnaps aus Frankreich, Spanien oder Portugal. Diese Waren wurden dort in riesigen Kellern zum Reifen zwischengelagert, später neu deklariert und, umgefüllt in kleineren Fässern, an den Steuerbeamten vorbei nach England geschmuggelt.

    Für die meisten aber war das Leben ein harter Kampf ums tägliche Brot. Anfang des 19. Jahrhunderts sicherten vor allem der Schiffsbau und der blaue Granit vielen Familien das Einkommen. Der harte Stein wurde schon seit ewigen Zeiten als Baumaterial verwendet, viele Häuser auf der Insel erzählen noch heute davon. Bis zu 200 aktive Steinbrüche gab es im 19. Jahrhundert. Granit wurde in großen Mengen nach England verschifft, die weltbekannte »London Bridge« beispielsweise ist aus ihm erbaut. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden jährlich fast eine halbe Million Tonnen Granit gebrochen. Geblieben sind riesige Löcher, die inzwischen als natürliche Regenwasserspeicher dienen. Heute spielt der Granitabbau keine große Rolle mehr, doch noch immer werden Häuser traditionell aus diesem Material erbaut.

    Auch der Gemüseanbau nahm im 19. Jahrhundert einen Aufschwung. Über die Jahre entstanden mehr als 9000 Gewächshäuser, in denen vor allem Tomaten reiften, die in großen Mengen nach England exportiert wurden – jährlich bis zu 550 Millionen Kilogramm. Bis im späten 20. Jahrhundert die Konkurrenz durch stark subventionierte Produkte aus EU-Ländern dieser gewinnbringenden Exportquelle einen Riegel vorschob, galt die schmackhafte »Guernsey Tom« als ein köstliches Symbol für die Insel. Dort kann man sie aber noch heute genießen.

    Am frischesten bekommt man sie und viele andere Agrarprodukte direkt bei den privaten Produzenten. Vor vielen Häusern auf Guernsey stehen Regale, in denen angeboten wird, was die Familie nicht selbst zum Leben braucht: Obst, Gemüse, Eier, Blumen. Man nimmt sich, was man braucht, und legt das Geld dafür einfach in eine Büchse. »Hedge veg« (Heckengemüse) nennt sich diese Art des Verkaufs. Der Name geht auf eine lange Tradition zurück – wer etwas übrig hatte, stellte es für andere vor die Hecken der Häuser.

    Überhaupt: Kulinarisch fühlt man sich auf Guernsey wie Gott in Frankreich. Fastfoodketten sucht man hier vergeblich, was nicht heißt, dass es kein Fastfood gibt. Doch das sieht zum Beispiel so aus: Man bestellt sich an einer Imbissbude am Meer ein Krabbensandwich und kann zuschauen, wie es frisch zubereitet wird – mit Krabben, die tags zuvor noch im Ärmelkanal schwammen. Frischer geht es kaum! Es sei denn, man kauft seine Meeresfrüchte direkt beim Fischer – Muscheln, Lobster, die riesigen Guernseykrabben oder verschiedene Fische.

    Auch Günter Botzenhardt, der in St. Peter Port sein Restaurant »Le Nautique« betreibt, schwärmt von der Vielfalt und Frische der Produkte. Der Koch aus der Nähe von Neu-Ulm kam 1981 nach Guernsey, wollte hier eine Weile arbeiten. Doch dann kam auch ihm die Liebe dazwischen – zu seiner heutigen Frau und natürlich auch zur Insel. Inzwischen kann er sich keinen Platz auf der Welt mehr vorstellen, wo er lieber leben wollte. »Man kann’s hier scho aushalte«, sagt er im besten Schwäbisch. Und auf die Frage, ob er nicht manchmal Heimweh habe, antwortet er mit einem Grinsen: »Nöö, nicht mal die Maultäschle vermisse ich. Die heißen bei uns Ravioli und werden mit Hummer gefüllt.« Meeresfrüchte in allen Varianten sind Günters Spezialität. »Bei mir ist alles frisch und alles von Guernsey«, sagt er und serviert einen Teller voll köstlicher Jakobsmuscheln mit der Bemerkung »Die waren heute morgen noch im Wasser.« Wer bei Günter Botzenhardt essen will, sollte unbedingt reservieren. Am besten einen Tisch am großen Panoramafenster mit Blick auf den Hafen.

    Was jedem Besucher sehr schnell auffällt, sind die intensiven Farben der Natur und das ganz besondere Licht auf der Insel: Die intensiven Sonnenauf- und untergänge, die sich von einem der vielen feinsandigen Strände aus besonders gut beobachten lassen, das filigrane, wandelbare Spiel von Licht und Schatten. Auch viele Künstler zog und zieht dieses Naturschauspiel magisch an. Einer der bekanntesten war der französische Impressionist Pierre-Auguste Renoir. 1883 verbrachte er den Sommer auf Guernsey und malte hier 15 Gemälde, von denen die meisten Ansichten der Bucht von Moulin Huet im Süden der Insel zeigen. Auch Renoir war fasziniert von der Art und Weise, wie das Licht die Natur, das kristallklare Wasser, die steilen Küsten und die Inselbewohner, die nackt zwischen den Felsen badeten, in Szene setzte. Es inspirierte ihn so sehr, dass er seinen bisherigen Stil änderte. Anlässlich des 100. Todestages des Künstlers wurde 1919 um die Bucht herum der »Renoir Walk« geschaffen. Der Wanderweg entlang der Klippen folgt seinen Spuren und ist durch fünf leere Bilderrahmen gekennzeichnet, die genau an jenen Stellen aufgestellt sind, an denen Renoir an seinen Gemälden gearbeitet hat. Die Rahmen ermöglichen es dem Betrachter, Moulin Huet aus denselben Perspektiven zu sehen wie einst Renoir.

    Während der Maler hier nur einen Sommer verbrachte, lebte ein anderer großer Künstler fast 15 Jahre auf Guernsey: Victor Hugo. Er allerdings kam nicht freiwillig, sondern wählte die Insel 1855 nach einem Zwischenstopp auf der Nachbarinsel Jersey als Exilort, nachdem er wegen seines Widerstands gegen Napoleon III. aus seiner Heimat Frankreich verbannt wurde. Sein 1862 veröffentlichter Roman »Les Travailleurs de la Mer« (Die Arbeiter des Meeres) ist eine Art Liebeserklärung an die Menschen auf Guernsey. Im Vorwort zu dem Buch schrieb er: »Ich widme diesen Roman der Insel der Gastfreundschaft und Freiheit, dieser Ecke des alten normannischen Landes, wo die edlen kleinen Leute des Meeres leben, auf der strengen und süßen Insel Guernsey, meiner derzeitigen Zuflucht und wahrscheinlichen Grabstätte.« Auch sein berühmtestes Werk »Les Miserables« (Die Elenden) vollendete und veröffentlichte Hugo auf Guernsey. Trotz Heimweh genoss er das Leben hier und ließ seine Freunde wissen, dass »ein Monat Arbeit hier ein Jahr in Paris wert ist«. Dennoch kehrte er 1870 nach Paris zurück. Sein bizarr eingerichtetes Wohnhaus und sein wunderschöner Garten sind heute Ziel für Menschen aus aller Welt. Ein besonderes Fotoobjekt ist auch die Eiche, deren Samen Hugo zwei Monate vor seiner Heimkehr nach Frankreich dort in die Erde setzte. In seinem Tagebuch notierte er: »Heute, am 14. Juli 1870, habe ich um ein Uhr nachmittags, unterstützt von meinem Gärtner Tourtell, in meinem Garten die Eichel gepflanzt, aus der die Eiche hervorgehen wird, die ich auf den Namen Eiche der Vereinigten Staaten von Europa taufe.« In hundert Jahren, wenn sie ausgewachsen ist, so notierte der Schriftsteller weiter, »wird es keinen Krieg mehr geben« und er hoffte, dass Europa dann vereint sein wird. Ein sehnlicher Wunsch, der leider nur zum Teil wahr geworden ist.

    Vielleicht hat ja auch der eine oder andere Soldat, der während der deutschen Besetzung der Insel im Zweiten Weltkrieg hier Hitlers Interessen verteidigen sollte, irgendwann vor Victor Hugos Eiche gestanden und gehofft, dass das sinnlose Völkermorden endlich ein Ende hat und ein friedliches Leben in Europa möglich wird. Glücklicherweise fand eine geplante große Invasion auf die Kanalinseln niemals statt, doch die riesigen Betonbunker, Gräben, Türme und Artilleriestellungen, die von Zwangsarbeitern aus ganz Europa und sogar aus Afrika errichtet wurden, umschließen Guernsey bis heute wie ein Ring. Alle Versuche, die gewaltigen Stahl-Beton-Konstruktionen zu sprengen, blieben erfolglos.

    Am Ende des Tages »schließt« Gaby ihr Geschichtsbuch mitten in St. Peter Port an einer ganz besonderen Bank. »Talking Bench« (Plauderbank) steht auf einem Schild an der Rückenlehne. »Nehmt einfach Platz, irgendwer setzt sich bestimmt dazu, um zu reden«, sagt sie. »Vielleicht über Sorgen und Einsamkeit, vielleicht aber auch über das Glück, auf dieser schönen, gastfreundlichen Insel mitten im Ärmelkanal leben zu dürfen.«

    Die Recherche wurde unterstützt von
    Guernsey Tourismus.

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