Ausweg aus der Porno-Falle

Abgestumpft und unbefriedigt – so geht es vielen, die regelmäßig Sex-Filme schauen. Zwei Frauen bieten Alternativen dazu an

  • Sarah Tekath, Amsterdam
  • Lesedauer: 8 Min.
Sexuelle Süchte: Ausweg aus der Porno-Falle

Seit Stunden sitzt Lee Dreyer vor dem Computer und schaut sich Sex-Szenen an. Ein Mann, mehrere Frauen, Close-ups auf Genitalien und Penetration in sämtliche Körperöffnungen. Aber Lee hat nicht einmal eine Erektion. Was er da sieht, reicht nicht mehr, um ihn zu stimulieren. Denn Lee ist pornosüchtig.

So wie ihm geht es mittlerweile vielen Männern. Zwei Frauen haben die Risiken von Pornografie und das Problem des eindimensionalen Blicks auf Sexualität erkannt und wollen helfen. Die eine mit Coaching, die andere mit einer App.

Denn Porno-Sucht ist längst kein marginales Problem mehr. Nach Schätzungen der Techniker-Krankenkasse von 2021 ist in Deutschland eine halbe Million Menschen davon betroffen. Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher liegen, denn erstens wurden bisher keine offiziellen Diagnosen gestellt – nicht jede*r Porno-Konsument*in ist sofort süchtig – und zweitens ist das Thema nach wie vor mit Scham behaftet.

Eine Erhebung der US-amerikanischen Porno-Plattform Pornhub aus dem Jahr 2019 hat weltweit die Geschlechterverteilung von Porno-Konsument*innen betrachtet und für Deutschland festgestellt, dass es 75 Prozent der Männer sind. Dementsprechend liegt die Vermutung nicht fern, dass der Männeranteil bei Porno-Sucht ebenfalls ungleich höher ist als bei Frauen. Konkrete Zahlen gibt es dazu allerdings nicht.

Seit 2022 stuft die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Porno-Sucht als »Compulsive sexual behaviour disorder« ein. Damit gemeint ist eine zwanghafte Sexualverhaltensstörung. Das Wort Sucht wird von der WHO in diesem Zusammenhang allerdings nicht verwendet. Diese Definition greift, wenn die Person ihre Handlungen – also in diesem Fall Pornos schauen – impulsiv ausführt und dieses Verhalten über mindestens sechs Monate nicht kontrollieren kann. Weitere Kriterien sind, dass diese Handlung zum Lebensmittelpunkt der jeweiligen Person wird, wodurch soziale Kontakte, die eigene Gesundheit und andere Verantwortlichkeiten vernachlässigt werden.

Lee Dreyer erinnert sich, dass er mit 14 Jahren zum ersten Mal einen Porno gesehen hat. Bis zum Alter von 19 Jahren ist sein Konsum konstant angestiegen. Anfangs alle zwei Wochen, dann jede Woche, schließlich jeden Tag und dann mehrmals am Tag. In der Hochphase ist er bei achtmal täglich. »Ich habe Pornos geschaut, wie andere eine Netflix-Serie bingen.«

Aber er hat auch gemerkt, was der erhöhte Porno-Konsum mit ihm macht. Denn was ihn anfangs erregt und zum Orgasmus gebracht hat, stimuliert ihn bald nicht mehr. »Irgendwann ist mir aufgefallen, dass mir ein Porno, in dem nur eine Frau zu sehen ist, nicht mehr gereicht hat. Es mussten mindestens zwei Frauen sein.« Auch in seinem Alltag zeigen sich Effekte. »Nach dem Masturbieren habe ich mich leer und ausgelaugt gefühlt. Es war irgendwie, als wäre die ganze Welt nur noch grau«, sagt Lee Dreyer.

Dieser Effekt ist keine Einbildung, sondern ein natürlicher Vorgang im Gehirn. Sex aktiviert dort das Lustzentrum und beim Orgasmus brennt der Körper ein Feuerwerk des Glückshormons Dopamin ab. Doch je mehr wir uns an die Inhalte gewöhnen, umso kürzer und schwächer wird dieser Effekt. Eine Gewöhnung stellt sich ein, wie beispielsweise beim Konsum von Alkohol. Wer viel konsumiert, braucht länger, um betrunken zu werden.

Wer sich an pornografische Inhalte gewöhnt, dessen Gehirn schüttet weniger Dopamin aus. Der- oder diejenige braucht also mehr Input, um zum gleichen Ergebnis zu kommen. Das kann beispielsweise dazu führen, dass Sex mit einer realen Person als unbefriedigend empfunden wird.

Hinzu kommt, dass die Anzahl der Dopamin-Rezeptoren im Gehirn abnehmen. Konkret heißt das: Wir empfinden auch im Alltag weniger Freude und Emotionen. Es gibt nichts mehr, was uns wirklich spannend erscheint oder was uns glücklich macht. Eben wie die besagte Leere bei Lee Dreyer.

Dieses Immer-mehr-brauchen steigert sich bei ihm bis an die Grenze der Legalität. »Ich kann nicht ausschließen, dass ich – wenn es so weitergegangen wäre – nicht auch illegale Sachen geschaut hätte«, sagt er.

Eines Tages sieht er ein Angebot auf seinem Smartphone. Für Bitcoins im Wert von dreißig Dollar wird ihm Kinderpornografie angeboten. Er klickt nicht darauf, weiß aber von vielen, die ihm gegenüber zugegeben haben, diese Grenze bereits überschritten zu haben.

Eine, die sich mit dem Effekt von Porno-Konsum auf das Gehirn auskennt, ist Sarah Alt. Sie arbeitet als klinische Psychologin und hat mit Nesoma Health eine App entwickelt, die sich auf die sexuelle Gesundheit von Männern fokussiert. Noch läuft die Testphase. Im August soll sie offiziell an den Markt gehen. Auf unterhaltsame Weise wolle sie damit einen neuen, erweiterten Blick auf Sex eröffnen, erklärt Sarah Alt. Das könne zum Beispiel durch Memes erfolgen, die zum Schmunzeln anregen oder durch Videos, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Dabei ist die App auf eine langfristige Nutzung ausgerichtet. Eingangs wird eine Selbsteinschätzung mit dem User durchgeführt, um seine sexuelle Zufriedenheit und seine Wünsche und Bedürfnisse zu erheben. Jeden Tag erhalten die Nutzenden anschließend einen Link zu einem interaktiven Element. Zum Beispiel einen Chat mit dem Team, das hinter der App steckt, zum Thema sexuelle Fantasien.

Die Inhalte der App sollen Denkanstöße geben. So gibt es beispielsweise Bereiche zu Themen wie Sexualität mit allen Sinnen erleben. Gleichzeitig werden den Usern auch direkte Fragen gestellt. Zum Beispiel: Warum habe ich Sex? Was sagt mir meine Motivation, Sex zu haben?

Die Rückmeldungen der User seien bislang positiv, sagt Alt. Die Nutzung der App mache den Usern Spaß, und ein gewünschter Lerneffekt stelle sich ein. »Nutzende geben an, dass sie einige Dinge nicht gewusst haben. Das hören wir besonders bei zwei Test-Chats zum Thema Klitoris und Dopamin«, sagt sie. Es gehe darum, ein Bewusstsein für die eigene Sexualität zu entwickeln und sich selbst besser kennenzulernen. »Die User sollen schauen: Wo bin ich jetzt? Wo will ich hin? Und wie komme ich da hin?« Dabei geht es weniger um den belehrenden Aspekt, Männern zu sagen, was sie beim Sex falsch machen, meint Alt, sondern eher darum, mit einer witzigen Art über Sex zu reden. Vielleicht ergeben sich dabei neue Gedanken und Ideen. Denn Sarah Alt weiß: »Was guten Sex ausmacht, weiß man oft erst, wenn man guten Sex hatte. Und da spielt Intimität eine große Rolle.«

Dass es besonders für Jungen und Männer in unserer Gesellschaft schwer sein kann, Verletzlichkeit und Intimität zuzulassen, weiß Tamara Strijk. Die Niederländerin arbeitet als Männer-Coach. Ihre Sitzungen umfassen Gespräche und Massagen. Ihr Kundenstamm sind vor allem Männer zwischen 40 und 60 Jahren, die meisten in einer Beziehung, in der ihnen aber etwas fehlt.

In ihrer Ausbildung als Sexual Healing Coach hat Strijk gelernt, dass es bei Sex-Problemen gar nicht mal an den Körperfunktionen liegen muss. »Es geht nicht um den Penis, der nicht steif wird oder um Orgasmusprobleme, sondern vor allem um den Menschen selbst.« Und das sei gerade für Männer in unserer Gesellschaft sehr angsteinflößend. Sich selbst zu entdecken, mit allem, was dazugehört.

Dies beginne schon beim Masturbieren. Für Frauen sei es normal, dass sie vielleicht länger im Bett liegen bleiben, sich streicheln und damit die Lust aufbauen. Männer legten gleich los, erzählt Strijk. Das Genießen sei für Männer gar nicht so üblich, sondern der Fokus liege auf dem Höhepunkt.

Hinzu komme, meint Sarah Alt, dass für Männer Verletzlichkeit und Intimität immer noch etwas sei, was im Geheimen ausgelebt werde, zum Beispiel in der Beziehung, nicht aber beim Biertrinken mit den Kollegen. Auch Lee Dreyer hat einmal versucht, seine Porno-Sucht im Freundeskreis anzusprechen. Das sei aber mit dem Kommentar abgetan worden, dass doch alle Pornos schauten.

Was Tamara Strijk zudem als problematisch ansieht, ist die fehlende Kommunikation von Eltern mit ihren Söhnen. Oft sei Pornografie die einzige Quelle, um sich über Sexualität zu informieren.

Dies bestätigt auch Sarah Alt. »Die Aufklärung läuft bei Männern immer noch meistens so: ›Ach ja, das mit dem Kondom, du weißt schon, wie das funktioniert, oder?‹ Dabei ist Sexualität so viel mehr, als Kondome richtig zu benutzen oder zu wissen, wie man mit Sexspielzeugen umgeht.« Und damit bewegten sich die Jungen in einem Kreis. Es gebe oft niemanden, den sie um Rat fragen können, aber irgendwann werde einfach vorausgesetzt, dass sie wüssten, wie es geht. Außerdem werde Jungen immer noch nicht explizit beigebracht, Gefühle zu äußern und über Intimität zu sprechen, sodass bei vielen dafür das Vokabular gar nicht vorhanden sei.

Zielgruppe von Nesoma Health sind Männer im Alter von 26 bis 40. Denn Alt weiß, dass es oft lange dauern kann, bis sich ein Bewusstsein für Sexualität entwickelt hat. Deswegen liegt der Fokus der App auf der Altersgruppe von Eltern oder zukünftigen Eltern. »Wenn ihr mit euch im Reinen seid, und wenn ihr über Sexualität reden könnt, dann könnt ihr das an die nächste Generation weitergeben«, rät Alt ihren Usern. »Setzt euch mit eurer Sexualität auseinander. Das ist das größte Geschenk, das ihr euren Kindern machen könnt.«

Auch Lee Dreyer hat sich mit seiner Sexualität und seinem Porno-Konsum intensiv beschäftigt. Seit mehr als einem Jahr lebt er abstinent, länger als 1000 Tage will er das aber nicht machen.

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