Energiewende: Industrie steht unter Strom

Wirtschaftsgipfel in der Staatskanzlei fordert Rabatt bei den Energiekosten

»Zwar ist Deutschland bei der Gas- und Stromversorgung besser über den Winter gekommen als befürchtet«, sagt Ina Händel, Präsidentin der Potsdamer Industrie- und Handelskammer (IHK). »Jedoch bleiben die Herausforderungen für die regionalen Unternehmen enorm hoch, denn die deutschen Strompreise haben sich im europäischen und internationalen Vergleich auf einem extrem hohen Niveau verfestigt.« Die Preise seien heute noch doppelt so hoch wie vor der Energiekrise und sogar viermal so hoch wie in Frankreich, bedauert Händel.

Ein sogenannter Industriestrompreis wird als mögliche Lösung des Problems diskutiert. Demnach sollen Industriezweige, die sehr viel Energie verbrauchen, für die Kilowattstunde vielleicht nur noch sechs bis acht Cent je Kilowattstunde bezahlen müssen – und damit deutlich weniger als Privatkunden oder kleine und mittelständische Handels- und Dienstleistungsfirmen.

»Ein Industriestrompreis ist notwendig«, findet Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Wer in der Bundesrepublik Waren produziere, habe wegen der hohen Energiekosten einen Wettbewerbsnachteil. Das müsste der Staat wenigstens teilweise ausgleichen, ist Woidke überzeugt. Am Montag hat er sich in der Potsdamer Staatskanzlei mit Vertretern von Unternehmen, Verbänden und Gewerkschaften zu einem Industriegipfel getroffen.

In einem anschließend ausgeteilten Papier heißt es: »Trotz außergewöhnlicher Umstände hat sich die Brandenburger Wirtschaft im vergangenen Jahr mehr als behauptet und ist im Bundesvergleich sogar überproportional gewachsen. Diese positive Entwicklung wollen wir fortsetzen. Allerdings belastet das aktuelle Niveau der Strompreise die Wettbewerbsfähigkeit.« Es bestehe die Gefahr einer Deindustrialisierung. Wenn Windstrom heute sieben bis acht Cent je Kilowattstunde kostet, dann könnte mehr Windenergie die Rettung sein. Wenn man genug davon hätte, dann bräuchte es auch keinen speziellen Industriestrompreis mehr, meint Woidke.

Allerdings kommen bei den sieben bis acht Cent noch Netzentgelte und Steuern obendrauf. So billig, wie Windstrom erzeugt wird, so günstig wird er natürlich nicht verkauft. Außerdem müsste erst einmal genug Windenergie verfügbar sein und man müsste ihn für Phasen der Flaute in erheblichen Mengen speichern können. Brandenburg wolle den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben, sichert Woidke zu. Aber das dauert seine Zeit.

Insofern werde ein Industriestrompreis gebraucht – »als Brücke mindestens bis ins Jahr 2030«, rechnet Oliver Heinrich, Landesbezirkschef Nordost der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Der Brückenbegriff ist vertraut. Er diente vor 15 Jahren dazu, das Festhalten an der Braunkohle für eine noch möglichst lange Zeit zu begründen. Bis 2070 oder länger sollte sie da in der Lausitz noch gefördert werden. Außerdem galt die Abscheidung und unterirdische Verpressung von CO2 als Brückentechnologie, die es erlauben würde, vermeintlich klimaschonend auf die Braunkohle zurückzugreifen. Heute gilt selbst das im Kohlekompromiss vom Januar 2019 vereinbarte Ausstiegsdatum 2038 als zu spät angesichts der Klimakrise.

Über einen Kohleausstieg früher als 2038 möchte Oliver Heinrich als Interessenvertreter der Kohlekumpel und Kraftwerksarbeiter eigentlich nicht mehr reden, lieber über den Einstieg in die erneuerbaren Energien. Erst wenn diese in dem Maße verfügbar sind wie erforderlich, könne man darüber nachdenken, ob eventuell früher als 2038 auf die Kohle verzichtet werden könnte, argumentiert der Gewerkschafter. Klingt logisch. Ganz ausschließen will er ein früheres Ausstiegsdatum nicht. Klingt gequält.

Das Papier der Staatskanzlei zum Industriegipfel nennt Bedingungen für ein Vorziehen des Kohleausstiegs: Die Versorgungssicherheit müsse gewährleistet werden. Bevor die Kohlekraftwerke abgeschaltet werden, müssten andere Jobs entstehen. Die Strompreise müssten »wettbewerbsfähig und sozialverträglich« sein.

Den Stahlwerken in Eisenhüttenstadt und Hennigsdorf, der Papierfabrik in Schwedt, dem Zementhersteller in Rüdersdorf, dem Chemiebetrieb in Oranienburg und der Glasmanufaktur in Tschernitz wäre mit einem Industriestrompreis gedient. Sie alle stehen auf der Teilnehmerliste des Industriegipfels. Nicht geholfen wäre dem Bäckermeister, dessen Backofen viel Strom frisst und der genauso weiter blechen müsste wie Privathaushalte.

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