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»Ich versuche, mich an die neue Realität zu gewöhnen.«

Andrei Borowikow aus Archangelsk saß wegen eines Rammstein-Videos zwei Jahre in Haft

  • Interview: Ardy Beld
  • Lesedauer: 7 Min.
Während Andrei Borowikow im Gefängnis saß, wurde die russische Gesellschaft härter, musste er nach seiner Entlassung feststellen.
Während Andrei Borowikow im Gefängnis saß, wurde die russische Gesellschaft härter, musste er nach seiner Entlassung feststellen.

Andrei, wie ist es, aus dem Straflager zurück zu sein?

Interview

Andrei Borowikow aus Archangelsk saß mehr als zwei Jahre im Gefängnis, weil er das Musikvideo »Pussy« von Rammstein in seinem Profil im russischen sozialen Netzwerk VK
gespeichert hatte. Der Richter sah es als erwiesen an, dass der heute 35-jährige Familienvater durch das Speichern Pornografie verbreitet hat. Am 23. Mai wurde Borowikow aus der Haft entlassen.

Ich bin euphorisch und unendlich froh, da raus zu sein. Das Lager befindet sich in der Nähe von Archangelsk, wo wir auch wohnten. Meine Frau ist nach der Inhaftierung mit unserem kleinen Sohn 400 Kilometer gen Süden zu ihren Eltern aufs Dorf gezogen, weil ich als Hauptverdiener ausfiel. Auch ich bin hier jetzt zu Gast, suche aber Arbeit, denn irgendwie müssen wir ja unseren Lebensunterhalt verdienen.

Die Vorbestrafung ist kein Problem bei der Arbeitssuche?

Nein, nur wenn man in der Schule oder bei der Polizei arbeiten will. Die Polizei wird mich wahrscheinlich nicht wollen (lacht). Und ich bin kein Lehrer, also scheiden diese Möglichkeiten aus. Aber im Lager in Archangelsk warteten viele lokale Journalisten auf mich. Als ich ins Taxi zum Haus meiner Schwiegereltern stieg, drehte sich der Fahrer um und sagte: »Ah, Sie sind es, ich habe gerade über Sie in den Nachrichten gelesen.« Lange werde ich es also nicht verbergen können. Aber es ist schon okay, ich war im Gefängnis, aber ich bin kein Krimineller, kein Mörder. Ich war nicht im Gefängnis, weil ich ein Verbrechen begangen habe.

Wie erlebst du die Gesellschaft, die du seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hast?

Ich bin erstaunt über die plötzliche Härte und die Grausamkeit. Früher habe ich über den Dilettantismus der Kreml-Propaganda gelacht. Wofür werden die eigentlich bezahlt, das ist so durchschaubar, dachte ich immer. Und jetzt sehe ich, dass diese Propaganda sehr gut funktioniert. Der Bevölkerung wurde auf brillante Weise das Gehirn gewaschen. Wenn man versucht, mit diesen Leuten zu reden und logisch zu argumentieren, schütteln sie den Kopf und fangen immer wieder von vorne an: »Gay-Ropa, der dreckige, verdorbene Westen« und so weiter und so fort. Viele hier glauben der Propaganda, nicht nur irgendwelche Alkoholiker, die um Geld betteln, auch Leute, die gut verdienen. Für mich ist es schwierig. Ich versuche, mich an die neue Realität zu gewöhnen. Früher war ein Dialog mit vielen Menschen möglich, diese Zeiten sind wohl vorbei. Es ist ein bisschen wie eine psychiatrische Störung der Massen. Andererseits ist es auch so, dass Verrückte immer am lautesten schreien. Vielleicht wird es am Ende weniger schlimm sein. Unerwartetes kann hier immer passieren. Übrigens nicht nur hier, man denke an die plötzliche Wende in der DDR.

Gab es viele Häftlinge, die sich für die Front rekrutieren ließen?

Ja, ich will es vorsichtig ausdrücken, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten: Es gab schon eine ordentliche Zahl von Häftlingen, die an die Front gingen.

Was für Leute waren das?

Man darf nicht vergessen, dass 80 Prozent der Häftlinge drogensüchtig sind. Es sind Menschen mit einer tragischen Vergangenheit. Die meisten von ihnen denken nicht nach. Sie haben nichts zu verlieren. Ihre Gedanken sind geradezu dumm: »Das ist meine Chance, jetzt werde ich eine Menge Geld verdienen«. Warum sind Leute im 17. Jahrhundert Pirat geworden? Es war gefährlich, sie konnten getötet werden. Aber das machte ihnen nichts aus. Später wurden sie romantisiert. So sehen sich diese Gefangenen heute: als mutige und tapfere Kerle, die die Freiheit lieben. Piraten des 21. Jahrhunderts.

Wie sah dein Tag im Straflager aus?

Im Lager war die Leitung in den letzten sechs Monaten sehr hart zu mir. Ich musste ständig in Isolationshaft. Im Gefängnis war es wieder anders. Ich war mit vier anderen in einer Zelle. Dort gab es viel Freizeit. Und am Anfang wurde ich von einem Gefängnis zum anderen geschickt. Das waren alles Gebäude aus der Zeit von Katharina der Großen. Es war wie eine Aufnahme in einem historischen Film. Ich war in einer Art Gewölbe, wo die Decke so niedrig war, dass ich sie ständig berührte. Das war im Frühjahr 2021. Es war furchtbar heiß und erstickend schwül. Die Mücken haben mich verrückt gemacht. Und man sitzt nur da und wartet und wartet bis das Urteil endlich gefällt wird.

Und nach dem Urteil gingst du ins Lager?

Ja, das war eine Art Siedlung mit Baracken und Fabrikhallen. Tagsüber habe ich in der Nähstube gearbeitet. Dann gab es noch das inoffizielle Programm. Ich hatte zum Beispiel einen kleinen Gemüsegarten hinter einem Schuppen. Irgendwo hatte ich Samen aufgetrieben. Nach einiger Zeit konnte ich Petersilie, Dill und Zwiebeln ernten. Wir haben auch unsere eigene Kleidung hergestellt. Keine auffälligen Sachen natürlich, aber einen etwas anderen Kragen. Hosenbeine, die weit ausgestellt waren. Klamotten, die im Lager angesagt waren. Diese Kleidung konnten wir gegen Zigaretten oder Tee eintauschen. Das war ein rein interner Handel, der außerhalb der Lagerleitung stattfand. Es war wie im Film ...

Gab es auch inoffizielle Anführer unter den Gefangenen?

Ich denke, so etwas gibt es in jedem Land und in jedem Männerkollektiv, das gezwungen ist, für kurze oder lange Zeit auf engem Raum zusammenzuleben. Es kommt immer zu einem Kampf um die Macht. Auch unter Büroangestellten. Natürlich werden Probleme unter Häftlingen häufiger gewaltsam gelöst als unter Managern. Aber das Prinzip ist das Gleiche.

Musstest du deine Fäuste einsetzen, um Recht zu bekommen?

Seltsamerweise nicht. Ich war immer in der Lage, Konflikte mit Worten zu lösen. Dabei habe ich stets die ungeschriebenen Gesetze des russischen Gefängnisses angewendet. Das war erfolgreich. Ich war ein Jurist in einem begrenzten Raum. (lacht)

Was sind das für ungeschriebene Gesetze?

Es gibt viele. Zum Beispiel, dass man anständig reden muss. Es ist nicht klug, zu fluchen oder Jargon zu benutzen, weil die Ausdrücke unterschiedlich interpretiert werden können. Das kann leicht zu Konflikten führen. Es ist auch sehr unklug, Eigentum anderer Häftlinge zu nehmen, ohne um Erlaubnis zu bitten. So etwas wird gnadenlos bestraft. Auf der anderen Seite wird Mut geschätzt. Selbst wenn ein Gefangener weiß, dass er einen Kampf verlieren wird, ist es wichtig, dass er zeigt, dass er kein Feigling ist.

Wurdest du vom Gefängnispersonal geschlagen?

Nein, ich wurde kein einziges Mal von Strafvollzugsbeamten geschlagen, weder in den Gefängnissen noch in den Lagern. Freunde schrieben mir nach einem Folterskandal in einem anderen Lager im Jahr 2021: »Andrei, sag uns bitte, falls du gefoltert wurdest.« Aber das war wirklich nicht der Fall. Es ist bestimmt irgendwo passiert, aber nicht dort, wo ich war.

Unterliegst du nach der Entlassung immer noch Einschränkungen?

Für die nächsten zwei Jahre muss ich mich jeden ersten und dritten Montag des Monats bei der Polizei in meinem Wohnort melden.

Du wurdest wegen eines Rammstein-Liedes eingesperrt, hast du mal etwas von den Musikern von Rammstein gehört?

Niemals. Weder nach meiner Entlassung noch während meiner Haftzeit. Nur der Gitarrist hat einmal ein paar Zeilen darüber geschrieben, dass er das Urteil gegen mich schon sehr hart fand. Von Sänger Till Lindemann oder anderen Bandmitgliedern habe ich in all der Zeit nichts gehört. Die Band hat auch nie offiziell Stellung bezogen.

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