Covid: Hickhack um Whatsapp-Nachrichten

In London beginnt ein Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Coronakrise seine Arbeit

  • Sascha Zastiral, London
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn am Dienstag in Großbritannien der Covid-Untersuchungsausschuss mit seinen ersten Anhörungen beginnt, markiert das den Startschuss des öffentlichen Teils einer umfassenden Untersuchung, die bis mindestens 2026 andauern soll. Hunderte Zeugen sollen vor dem Ausschuss aussagen, dem die ehemalige Richterin Heather Hallett vorsteht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses sollen auch Zehntausende von Dokumenten durchkämmen.

Die groß angelegte Untersuchung soll klären, wie sich die britische Regierung in London und die Regierungen in den anderen Landesteilen während der Hochphase der Covid-Pandemie geschlagen haben. Und sie soll Antworten auf eine brisante Frage finden: Wieso hat die Pandemie Großbritannien so viel härter getroffen als andere vergleichbare Länder?

Dass Corona das Land ausgesprochen hart getroffen hat, wird an den Opferzahlen deutlich: Laut der Gesundheitsorganisation WHO sind in Großbritannien seit dem Beginn der Pandemie mehr als 226 000 Menschen im Zusammenhang mit Covid ums Leben gekommen. In Frankreich, das mit 67 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern eine ähnlich große Bevölkerung hat, starben 164 000. In Deutschland waren es, gemessen an der Bevölkerungszahl (über 83 Millionen), deutlich weniger: 174 000.

Doch schon vor Beginn der Anhörungen gab es einen außerordentlichen Eklat: Die Regierung legte Beschwerde gegen Halletts Forderung ein, dem Ausschuss die gesamte Kommunikation vorzulegen, die während der Pandemie zwischen dem damaligen Premier Boris Johnson, seinen Kabinettskollegen und den Beratern der Regierung erfolgte. Anwälte des Cabinet Office, der zentralen Behörden der britischen Regierung, zogen deswegen vor Gericht. Der High Court in London soll sich demnächst in einem beschleunigten Verfahren damit befassen.

Nicht wenige Kommentatoren wiesen darauf hin, wie ungewöhnlich dieser Vorgang ist. Schließlich klagt die Regierung darauf, den Spielraum einer Untersuchung zu begrenzen, die sie selbst in Auftrag gegeben hat. Jedoch hat es innerhalb dieser Regierung einen entscheidenden Personalwechsel gegeben: Der Premier, der die Untersuchung im Mai 2021 in Gang gesetzt hat, war Boris Johnson. Der aktuelle Hausherr in der Downing Street Nummer 10 heißt Rishi Sunak. Und der ist inzwischen so etwas wie Johnsons Erzfeind.

Und so dreht sich das Hickhack zwischen der Kommission und der Regierung auch in erster Linie um den ehemaligen Premier, der erst am Freitag auch seinen Job als Abgeordneter hingeworfen hat: So verlange der Ausschuss vor wenigen Wochen von Johnson sämtliche Nachrichten, die er während der Pandemie mit rund 40 anderen Personen über den Textnachrichtendienst Whatapp ausgetauscht hat. Johnson erklärte sich umgehend dazu bereit. Die Regierung von Rishi Sunak stellte sich quer. Viele der Nachrichten seien schlicht »irrelevant«, erklärt das Cabinet Office. Daher werde man die »unwichtigen« Teile der Kommunikation unkenntlich machen, bevor man sie dem Untersuchungsausschuss übergebe.

Das kam bei der Ausschussvorsitzenden Heather Hallett erwartungsgemäß überhaupt nicht gut an. Es sei ihr Job, zu entscheiden, was relevant sei und was nicht, feuerte die ehemalige Richterin zurück. Der Streit hat sich seitdem auf Nachrichten auf dem Gruppen-Nachrichtendienst Google Spaces ausgeweitet, den Mitglieder der Regierung während der Pandemie ebenfalls zur Kommunikation genutzt haben.

Wie so oft, wenn es um Boris Johnson geht, gab es in dieser Frage auch schon mehrere Wendungen: So wurde bekannt, dass Johnson im Mai 2021 sein Handy aufgrund schwerer Sicherheitsbedenken wechseln musste. Erstaunlicherweise war den IT-Experten der Regierung offenbar erst damals aufgefallen, dass Johnson als Regierungschef weiter seine alte Mobilfunknummer verwendet hat. Und die war seit mindestens 15 Jahren allgemein bekannt und weit verbreitet.

Als Johnson kürzlich die Bedenken von Rishi Sunaks Regierung in den Wind schlug und seine Whatsapp-Nachrichten dem Ausschuss direkt zur Verfügung stellte, gingen diese daher auch nur bis zum Handywechsel zurück. Sicherheitsexperten der Regierung sollen Johnsons altes Gerät nun unter strengen Sicherheitsvorkehrungen starten und versuchen, die verschollenen Whatapp-Nachrichten wiederherzustellen.

Dabei könnte die Untersuchung so einiges zutage fördern, was Johnsons Entscheidungen als Premier ausgesprochen negativ erscheinen lassen könnte: So war Johnson den ersten Krisensitzungen zur Pandemie ferngeblieben und weigerte sich im März 2020 lange, den ersten Lockdown zu verhängen. Bewohner von Pflegeheimen – wo es in den ersten Monaten Zehntausende Todesopfer gab – wurden lange ohne Tests aus Krankenhäusern in ihre Heime entlassen. Einige Kritiker glauben, dass Johnsons Regierung dem Virus zudem zu Beginn freien Lauf lassen wollte, um so schnell wie möglich eine Herdenimmunität herzustellen. Das hätte aus Sicht von Experten zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems geführt und für Abertausende zusätzliche Todesopfer gesorgt.

Dass Johnson dem Ausschuss dermaßen offen entgegentritt, könnte einen anderen Grund haben: Seine Whatapp-Nachrichten könnten auch seinen Erzrivalen Sunak beschädigen. Sowohl Johnson als auch viele seiner Unterstützer sehen in ihm den Hauptverantwortlichen für Johnsons Sturz im vergangenen Sommer.

So hat Sunak, der damals Schatzkanzler in Johnsons Regierung war, im August 2020 unmittelbar nach dem Abebben der ersten schweren Covidwelle ein Förderprogramm in Gang gesetzt, das bis heute für reichlich Kopfschütteln sorgt: Die Regierung übernahm damals, unter bestimmten Voraussetzungen, die Hälfte aller Restaurantrechnungen im Land. Der Name der Kampagne: »Eat Out to Help Out«, »iss auswärts, um auszuhelfen«. 850 Millionen Pfund (992 Millionen Euro) ließ sich die Regierung dieses Programm damals kosten, das dem angeschlagenen Gastro-Sektor helfen sollte.

Millionen von Briten, denen während des Lockdowns die Decke auf den Kopf gefallen war, nahmen das Angebot dankbar an und strömten umgehend in Restaurants, in denen meist nur fragwürdige Abstandsregeln galten. Zahlreiche Experten gehen davon aus, dass die Maßnahme wesentlich zum Entstehen der zweiten schweren Coronawelle in Großbritannien gesorgt hat.

John Edmunds, Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine und damals ein Berater der Regierung, sagte der Wochenzeitung »The Observer« kürzlich, dass die Regierung das kontroverse Programm nie mit Wissenschaftlern besprochen habe. »Meiner Meinung war das eine spektakulär dumme Idee und eine obszöne Art, öffentliche Gelder auszugeben.«

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