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Auf der Suche nach dem Tag, der fehlt
Tragik und Trost in den gesammelten Gedichten von Leta Semadeni
Nie wird alles gesagt, immerzu bleibt in den Poemen der Schweizer Autorin Leta Semadeni ein Geheimnis zurück. Und so entfalten in ihren gesammelten Gedichten, die auf Deutsch und Rätoromanisch erschienen sind, vor allem jene Texte eine enorme Anziehungskraft, in denen sich das Eigentliche zwischen den Zeilen andeutet. Wenn sich beispielsweise ein Tag verabschiedet und ein neuer beginnt, dann vernimmt man »das kratzende Geräusch / beim Trennen / des Gegenwärtigen / vom Lauernden«. Worin besteht diese Latenz? Das Wabernde und das Untergründige? Bisweilen sprechen es die Miniaturen aus. Inmitten grüner Weiden und einer lieblichen Flusslandschaft taucht dann der Tod bei den Weidekätzchen auf. Und wie trügerisch die Idylle in einem Dorf ausfallen kann, muss ein Mann bemerken, der auf einer Bank »geduldig / auf seinen Albtraum« wartet.
Doch nur selten offenbart hier ein lyrisches Ich wirklich, was es bewegt. In einem wunderschönen, lakonischen Fünfzeiler gibt es sich als ewiger Wanderer zu erkennen: »Seit Jahren / auf der Suche / nach dem Tag / der fehlt / seit Jahren«. Das Ziel: ungenau. Die Ahnung: Etwas ist auf unbekannte Weise und schmerzvoll abhandengekommen. Weder beschönigt die 1944 im Unterengadin geborene Autorin die permanente Anwesenheit der Abwesenheit, mithin all die drohenden und erlittenen Verluste eines Daseins, noch steigert sie die mit ihnen verbundene Drastik. Vielmehr gleicht ihre Haltung jener einer stillen und dem Lauf der Dinge zugewandten Beobachterin.
Sie spaziert durch helle und dunkle Existenzphasen, notiert, was ihr auffällt, und ringt sich innerhalb der Stimmungsdichtung hier und da zu feinen Offenbarungen des Trosts durch. Wenn man etwa befürchtet, verloren zu gehen, dann soll man sich vergegenwärtigen, dass der Himmel »nur einen Augenblick entfernt ist«. In einem anderen Text entwickelt Semadeni wiederum ein bestechendes Bild für die Umformung von Melancholie in Kreativität. Man kann seine Schwermut symbolisiert als ein Stück Stoff auf dem Flohmarkt verkaufen. Trotz Regen weiß der einsame Händler: Bald »wird wohl einer kommen / und meine Traurigkeit kaufen / um ein Sommerkleid / daraus zu machen«.
Diese kleine Fabel enthält nicht mehr und nicht weniger als das ästhetische Programm der Trägerin des Schweizer Literaturpreises. Ihre Texte schreiben sich aus dem realen und unmittelbaren Hier und Jetzt heraus, um sodann in einen anderen Zustand überzugehen oder manchmal eben abrupt zu kippen. Nur selten findet sich dabei ein überflüssiges Wort in den stets verknappten, auf die reine Essenz reduzierten Gedichte.
So konzentriert sie anmuten, so wahrhaftig erscheint ihr Charakter. Obgleich man in dem Kompendium auch auf so allerlei banale, fast notizzettelartige Verse trifft, bestechen die Zeugnisse in summa durch ihre ungemeine Lebensdichte. In ihnen ist geronnen, was die menschliche Existenz bewegt: Tod und Vergessen genauso wie Erinnerung und Mut. Die Sprache führt unterdessen eine Art Eigenleben. Wörter erweisen sich als »schnell wachsende / fluoreszierende Pilze«. Bedrohlich wirkt dieses Treiben im Verborgenen nicht, sondern letzthin ziemlich erbaulich, zeigt es doch anschaulich: Wir sind nicht allein.
Leta Semadeni: Ich bin doch auch ein Tier. Gesammelte Gedichte. Mit einem Nachwort von Rico Valär. Rätoromanisch/Deutsch. Atlantisverlag. 192 S., geb. 24 €.
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