Leuchtende Seen und gigantische Gänseblümchen

Wie viele Jahrtausende muss man im Kosmos auf ein Ersatzteil warten? »Die Sirenen des Titan« von Kurt Vonnegut wurde neu aufgelegt

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.

Im vergangenen November war der 100. Geburtstag des US-amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut. Geboren 1922 in Indianapolis, gestorben 2007 in New York, war er in den 70er Jahren ein Kultautor, dessen Werke in deutscher Übersetzung längst vergriffen sind. Nun legt der Heyne-Verlag einige seiner Titel neu auf. Den Anfang macht sein 1959 im amerikanischen Original erschienener und 1979 von Harry Rowohlt ins Deutsche übertragener Roman »Die Sirenen des Titan«. Als abgegriffenes Taschenbuch wurde diese Science-Fiction-Groteske jahrelang für 50 Euro und mehr im Internet gehandelt.

»Die Sirenen des Titan« lassen sich als Schlüsselroman in Vonneguts literarischem Werk verstehen. Hier taucht erstmals ein Außerirdischer vom Planeten Tralfamadore auf, der in veränderter Gestalt auch in Vonneguts Antikriegsroman »Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug« eine zentrale Rolle spielt. Damit schaffte er 1969 den literarischen Durchbruch. Es ist sein bekanntestes Werk geblieben und gehört zum Kanon der 68er-Bewegung in den USA. Unter anderem erzählt er darin von der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg, die er selbst vor Ort als Kriegsgefangener miterlebt hatte. Auch in »Schlachthof 5« ist der Protagonist im Februar 1945 in einem Keller eingesperrt, während über ihm britische und US-amerikanische Bomber die Stadt in Brand setzen. Er durchlebt eine sprunghafte Zeitreise, denkt sowohl an seine Begegnungen mit Außerirdischen vom Planeten Tralfamadore als auch an die Kämpfe gegen die deutsche Ardennenoffensive im Winter 1944, als er in Kriegsgefangenschaft geriet.

Die Bewohner von Tralfamadore haben die besondere Fähigkeit, ihr gesamtes Leben vorab schon zu kennen. Zwar können sie es nicht ändern, aber sie können sich aussuchen, in welchem Abschnitt sie sich aufhalten wollen. Auch wenn in Vonneguts Romanen fortwährend Aliens vorkommen und so opulent wie ironisch von dystopischen Zukunftsaussichten erzählt wird, sind sie im strengen Sinne keine Science-Fiction, Vonnegut bedient sich nur virtuos am Genre. Durch seine Romane lässt er sein literarisches Alter Ego Kilgore Trout geistern, der auch schon in »Schlachthof 5« vorkommt. Trout ist der literarische Prototyp eines im Kulturbetrieb nicht anerkannten Science-Fiction-Schriftstellers, der nächtelang in heruntergekommenen Apartments in seine Schreibmaschine hackt und eine fantastische Welt nach der anderen hervorzaubert.

Fantastische Welten entwirft Kurt Vonnegut auch in »Die Sirenen des Titan«, einer bitterbösen Religionssatire. Im Zentrum steht der reichste Mann der Welt: Malachi Constant. Sein Vater hatte sein Vermögen damit gemacht, dass er nur in Firmen investierte, deren Anfangsbuchstaben im ersten Satz der Genesis in der Bibel enthalten waren. Sie auszuwählen ist geheimes Verfahren, von dem nur er und sein Sohn Malachi Kenntnis haben. Doch Malachi verliert schließlich sein ganzes Geld – und landet auf dem Mars, von wo aus ein anderer superreicher Amerikaner eine Invasion auf die Erde vorbereitet, um so den vermeintlich bedrohten Planeten zusammenzuschweißen und die sodann geeinte Menschheit mit seiner neu geschaffenen Religion »Der Kirche des durchaus Gleichgültigen Gottes« zu beherrschen.

Doch dieser Plan ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Religionsstifter reist zwischen den Planeten hin und her, als eine Art Wellenphänomen, nachdem er in seinem Raumschiff in einen Sonnensturm geraten ist. Alle paar Wochen materialisiert er sich auf der Erde in seinem luxuriösen Landsitz in Newport, dann wieder auf dem Mars und an anderen Stellen des Sonnensystems. Aber eigentlich sitzt er die ganze Zeit auf dem Saturnmond Titan. Dort lebt er in einer prunkvollen Villa – in Nachbarschaft zu Salo, einem mehrere Hunderttausend Jahre alten Alien vom Planeten Tralfamadore, der auf Titan mit seiner fliegenden Untertasse Schiffbruch erlitten hat. Malachi Constant landet schließlich ebenfalls für lange Zeit auf dem Titan, nachdem er gezwungen war, mit seiner Frau und seinem Sohn die Erde zu verlassen, weil er als Sündenbock der neuen Religion herhalten musste.

»Die Sirenen des Titan« ist wie alle Romane Vonneguts in einer sehr schlichten Sprache verfasst. Der Autor schert sich nicht um die Frage, ob es für Menschen überhaupt möglich ist, auf dem Titan zu leben. Es gibt dort gigantische Gänseblümchen, leuchtende Seen und riesige Vogelschwärme zu bewundern – und den besagten Salo, der seit zweihunderttausend Jahren auf ein Ersatzteil wartet. Schließlich stellt sich heraus, dass die Menschheitsgeschichte der Erde nur ein Prozess ist, um dieses Ersatzteil herzustellen. Berühmte Bauwerke wie die Akropolis oder die Chinesische Mauer, die man von Titan aus sehen kann, sind Benachrichtigungen an Salo, wie lang es noch dauert.Berühmte Bauwerke wie die Akropolis oder die Chinesische Mauer sind Benachrichtigungen, wie lang es noch dauert, an Salo, der sie von Titan aus sehen kann.

Daneben erzählt Vonnegut vom Kadergehorsam des Militärs und von der Brutalität des Krieges, von sagenhaften Reichtümern, windigen Religionen und Ideologien und davon, wie unbedeutend die große Geschichte der vermeintlich so bedeutsamen Menschheit eigentlich ist.

»Die Sirenen des Titan« ist eines der Lieblingsbücher von Salman Rushdie. Mit seiner ironischen Art des Erzählens erinnert es an »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams, der dieses Buch nach eigenen Angaben sechsmal gelesen hat. Im Zuge des nach wie vor anhaltenden Science-Fiction-Booms in Literatur und Film ist Kurt Vonnegut auch deshalb zu empfehlen, weil er dem Genre eine satirische Seite entlockt, die oft viel zu kurz kommt.

Kurt Vonnegut: Die Sirenen des Titan. A. d. amerik. Engl. v. Harry Rowohlt, Heyne, 352 S., br. 16 €.

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