Wen schützt der Verfassungsschutz?

Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird vom Inlandsgeheimdienst eher ausgehöhlt

Es ist noch nicht lange her, da antwortete Thomas Haldenwang auf Fragen von Journalisten und Juristen, er sehe die Gruppe Letzte Generation derzeit nicht als »extremistisch« an, auch wenn sie teilweise kriminell agiere. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) schickte aber hinterher: »Der Verfassungsschutz schaut täglich genau hin, wie sich die Situation weiterentwickelt.«

Mancher der überwiegend jungen Menschen, die sich in dieser oder in anderen Klimaschutzorganisationen engagieren oder sich für ein Mitwirken in ihnen interessieren, könnte das als unterschwellige Drohung verstehen – so moderat sich der aktuelle Chef des Inlandsgeheimdienstes auch im Vergleich mit seinem Vorgänger Hans-Georg Maaßen gibt.

Und tatsächlich betreiben der Verfassungsschutz und andere Behörden seit Jahren Hand in Hand das Geschäft der Verunsicherung unter Klimaaktivisten von Fridays for Future bis Ende Gelände. Man könnte, was das Agieren des Verfassungsschutzes betrifft, auch von einer Strategie der Zersetzung sprechen, die bundesdeutschen Geschichtsnarrativen zufolge nur von den Mitarbeitern des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit angewandt wurde.

Den vorläufigen Höhepunkt dieser Strategie bildete eine von der bayerischen Staatsanwaltschaft veranlasste Razzia bei Mitgliedern der Letzten Generation am 23. Mai in mehreren Bundesländern. Der Journalist und Jurist Ronen Steinke nannte die Aktion in der »Süddeutschen Zeitung« einen »Lausch-, Späh- und Wühlangriff mit bundesweiten Ausmaßen«. Steinke weiter: »Sie haben Wohnungen aufbrechen lassen, sie haben mit Taschenlampen ins Privateste hineinleuchten lassen, in Schlafzimmer, in Schränke, und sie haben den Menschen, die da im Pyjama vor ihnen standen, zu verstehen gegeben, dass in ihre Privatsphäre eingedrungen wurde und Telefongespräche womöglich mitgehört und abgespeichert wurden.«

Die groteske Unverhältnismäßigkeit des Vorgehens gegen Menschen, die über ihre Aktionen stets öffentlich vorab informieren und die ausschließlich mit gewaltfreien Mitteln des zivilen Ungehorsams arbeiten, ist ein Leitmotiv von Steinkes dieser Tage erschienenem Buch über den Verfassungsschutz, in dem er dessen Rolle analysiert – als Instrument der Beeinflussung öffentlicher Debatten quasi im Auftrag von Bundesregierung und Länderregierungen.

Viele Erkenntnisse darin sind nicht wirklich neu, etwa die Feststellung, dass der Feind des Inlandsgeheimdienstes und der überwältigenden Mehrheit seiner Beamten seit Gründung der Behörde 1949 »immer links« stand. Das Pfund, mit dem Steinke wuchern kann, ist neben seiner Expertise als Rechtswissenschaftler seine anschauliche Schilderung besonders grotesker Beispiele der Bespitzelung von Personen und sein direkter Zugang zu wichtigen Mitarbeitern von BfV und Landesämtern.

Anhand der konkreten Fälle macht Steinke deutlich, wie sehr der »Lauschapparat« des Verfassungsschutzes in das Leben von Bürgern eingreift. Und dass er dies völlig unkontrolliert nach eigenem Gusto tun kann, und das faktisch im Regierungsauftrag und »ausdrücklich mit dem Ziel, die politische Dynamik im Inland zu verändern«.

So schildert der Autor den Fall eines 15-Jährigen, dem nach der Teilnahme an einer Aktion von Klimaschützern auf dem Areal des RWE-Braunkohletagebaus Garzweiler Jugendarrest wegen Hausfriedensbruchs drohte. Seine Verunsicherung nutzte ein Beamter des nordrhein-westfälischen LfV aus, um einen Anwerbeversuch zu starten.

Ein weiterer Fall, den Steinke beleuchtet, ist der des Linke-Politikers Niema Movassat, der seit seinem 16. Lebensjahr unter steter Beobachtung steht. Denn damals, 2001, trat der Sohn iranischer Einwanderer der PDS bei und engagierte sich unter anderem gegen den Wehrdienst und Auslandseinsätze der Bundeswehr. Der Geheimdienst vermerkte gar die Unterschrift Movassats unter einen Solidaritätsaufruf für streikende Studierende als verfassungsgefährdende Aktivität. Details über seine Bespitzelung erfragte der Betroffene selbst auf der Basis des Informationsfreiheitsgesetzes. An etlichen Punkten wurden ihm aber Auskünfte unter Verweis auf den »Quellenschutz«, sprich auf V-Leute in seinem Umfeld, verweigert. Der Jurist saß von 2009 bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden 2021 für Die Linke im Bundestag.

Steinke legt dar, dass der Inlandsgeheimdienst, der Dossiers über Linke mit grotesker Pedanterie führt, nach wie vor auf dem rechten Auge ziemlich sehbehindert ist und etwa in Sachen Beobachtung von Reichsbürgernetzwerken zum Jagen getragen werden musste. Und dass er nach jeder »Panne« noch ein paar Hundert Planstellen mehr bekommen hat. Allein beim BfV hat sich die Zahl der Mitarbeiter in den letzten 20 Jahren auf fast 4000 verdoppelt, das jährliche Budget gar auf fast 500 Millionen Euro verdreifacht.

Angesichts des Umfangs der Bespitzelung tendenziell antikapitalistischer Gruppierungen kommt Steinke zu dem Schluss, dass der Geheimdienst nicht die wahren »Demokratie-Gefährder« im Blick hat, sondern demokratisches Engagement etwa gegen die Klimakatastrophe, gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit »im Namen des bestehenden Wirtschaftssystems« behindert. Er sei mithin selbst eine Gefahr für die Demokratie, weshalb er abgeschafft gehöre.

Allein dadurch, dass der Geheimdienst Gruppen öffentlich anprangern kann, hätten es als »verfassungsfeindlich« Etikettierte schwerer, »in der Öffentlichkeit Gehör zu finden«, konstatiert Steinke. Seine Agenten seien damit in der Lage, »den Preis für politisches Engagement in die Höhe zu treiben«.

Steinke wendet sich, die Maßstäbe rechtsstaatlichen Agierens anlegend, ganz klar auch gegen eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz. Positionen, die die rechte Partei propagiert, erläutert der Autor, seien zuvor auch von CSU- und CDU-Politikern vertreten worden, Hetze und Förderung von Mordfantasien etwa gegen Geflüchtete, aber auch gegen den später von Neonazis getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, inklusive. Solange sie aber von diesen ausgegangen seien, habe sich der Geheimdienst nie dafür interessiert.

Ronen Steinke: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin-Verlag 2023, 224 S., 24 €.

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