Von Fliegenlarven bis Kaltplasma

Immer mehr Menschen haben offene Wunden – aber es gibt vielfältige Behandlungsmöglichkeiten

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.
Frische, blutige Wunde am Schienbein, bereits genäht.
Frische, blutige Wunde am Schienbein, bereits genäht.

Ein kleiner Mückenstich am Fuß oder ein Kratzer am Unterschenkel: Manchmal können schon winzige Verletzungen schwerwiegende Folgen haben. Wer an Diabetes, Durchblutungsstörungen oder starkem Übergewicht leidet, ist besonders anfällig für schlecht heilende Wunden. »Bei solchen Vorerkrankungen können Bagatellverletzungen gerade am Bein chronisch werden«, sagt die Wundexpertin Ewa Stürmer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Das heißt, dass die Verletzung auch nach ungefähr acht Wochen nicht heilt. Solche chronischen Wunden sind nicht nur schmerzhaft und lästig, sondern auch gefährlich: Über sie können Bakterien in den Blutkreislauf gelangen und Entzündungen auslösen, die im Extremfall Amputationen nötig machen. Doch es gibt viele Behandlungsmöglichkeiten und vielversprechende Innovationen.

Je früher die individuell angepasste Therapie beginnt, desto besser sind die Aussichten. Oft verstreicht aber viel Zeit, bis der Grund für die Wundheilungsstörung gefunden wird. »Meistens dauert es ein paar Wochen, bis ein Patient wegen der Wunde zum Hausarzt geht«, sagt Stürmer. »Dann vergehen wieder ein paar Wochen, bis die Ursache diagnostiziert wird.« Es geht nicht nur darum, die Wunde professionell zu reinigen und zu verbinden, sondern die zugrunde liegende Krankheit zu behandeln.

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»Das Wichtigste ist: Man muss an die Ursache rangehen«, betont auch Martin Motzkus, Pressesprecher der Initiative Chronische Wunden. Hinter Geschwüren und »offenen Beinen« stehen häufig das diabetische Fußsyndrom, Venenschwäche und arteriell bedingte Durchblutungsstörungen. Diese Erkrankungen haben zur Folge, dass Gewebe schlechter mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird, was die Wundheilung behindert. Auch ständiger Druck, der auf das Gewebe ausgeübt wird, wirkt kontraproduktiv: Daher sind Menschen mit geschwollenen Beinen und starkem Übergewicht gefährdet – und auch, wer im Rollstuhl sitzt oder bettlägerig ist.

Schon heute leiden schätzungsweise mehr als eine Million Menschen in Deutschland an chronischen Wunden. Die Zahl wird nicht nur wegen des demografischen Wandels weiter steigen, prognostiziert Stürmer. Immer häufiger haben auch schon jüngere Menschen Diabetes, zudem wächst die Bedrohung durch Adipositas. Starkes Übergewicht erhöht das Risiko für chronische Wunden aus mehreren Gründen: Es erhöht den Druck im Gewebe, vergrößert das Diabetesrisiko und provoziert eine chronische Entzündungsreaktion, die den Heilungsprozess erschwert.

Wie die Wunde versorgt wird, richtet sich nach Art und Größe der Verletzung, Vorerkrankungen und vielen weiteren Faktoren. Standard ist heutzutage, sie feucht zu halten. Liegt eine Infektion vor, kommen antiseptische Mittel zum Einsatz – sonst reicht in der Regel eine sterile Kochsalzlösung zum Säubern. Wenn die Wunde mit abgestorbenem Gewebe und Belägen verklebt ist, ist eine gründliche Reinigung (Débridement) sinnvoll. Dazu gibt es verschiedene Methoden. »Am effektivsten ist das scharfe Débridement«, sagt Stürmer. Dabei werden Krusten und bakterielle Biofilme zum Beispiel mit einem Skalpell oder einem scharfen Löffel abgetragen. In Deutschland dürfen aber nur Ärzte und geschulte Wundexperten diese oft schmerzhafte Behandlung vornehmen. Dabei kann es auch leicht zu Blutungen kommen, da insbesondere ältere Patientinnen häufig Gerinnungshemmer nehmen. Am verbreitetsten ist daher die sogenannte autolytische Reinigung, bei der Wundbeläge durch feuchtigkeitsspendende Gele oder Auflagen aufgeweicht und entfernt werden. Motzkus erklärt: »Das ist ähnlich wie bei einem angebrannten Topf: Um ihn besser spülen zu können, weicht man ihn erst einmal ein.«

In Krankenhäusern setzt man mitunter auch auf »Biochirurgie«: Dabei werden im Labor gezüchtete Fliegenlarven auf die Wunde gelegt, die abgestorbenes Gewebe durch ihre Speichelenzyme verflüssigen und in sich hineinsaugen. Die offene Stelle wird dadurch gründlich gereinigt und Bakterien werden abgetötet. Seit Kurzem ist außerdem ein chemisches Débridement möglich, indem man ein dehydrierendes, bakterientötendes Gel für eine Minute aufträgt – Erfahrungen gibt es aber noch wenige.

Wunden lassen sich auch mit physikalischen Methoden behandeln. Auf viel Interesse stößt seit ein paar Jahren die Kaltplasma-Behandlung. Bei kaltem Plasma handelt es sich um ionisiertes Gas, das weniger als 40 Grad Celsius warm ist. Es gibt Hinweise, dass chronische Wunden besser verheilen, wenn sie mit Plasma dieser Art behandelt werden. Offenbar werden dadurch Bakterien effektiv abgetötet, und der Heilungsprozess wird angeregt, ohne dass Patientinnen und Patienten größere Schmerzen haben.

»Es gibt allerdings ganz unterschiedliche Technologien, die schwer miteinander vergleichbar sind. Niemand kann sagen, welches Gerät am besten ist«, sagt Stürmer. Mal werden spezielle Stifte, mal Schwämme, mal Wundauflagen verwendet, mal wird das Plasma aus Luft, mal aus dem Edelgas Argon erzeugt. »Bisher wurden auch nur relativ wenige Patienten mit Kaltplasma behandelt, da es sich um eine Selbstzahlerleistung handelt«, fügt sie hinzu. Das könnte sich in einigen Jahren ändern: Der Gemeinsame Bundesausschuss hat im Frühjahr beschlossen, den Nutzen der Kaltplasmatherapie in einer groß angelegten Studie zu prüfen. Können die Ergebnisse überzeugen, könnte die Methode zur Kassenleistung werden.

»Kaltplasma ist ein interessantes Tool«, betont die Expertin. »Es ist aber auch keine ›One-fits-all‹-Lösung in der Versorgung chronischer Wunden.« Noch gibt es zu wenig Daten, um zu beurteilen, wer von der Behandlung profitiert. Unklar ist auch, ob die Therapie die herkömmliche Wundreinigung ersetzen kann. »Aufgrund unserer Erfahrungen empfehlen wir, Kaltplasma nur ergänzend zum Débridement anzuwenden«, sagt Stürmer. Die Anwendung, die man sich ein bisschen wie eine Laserbehandlung vorstellen kann, sei unproblematisch, müsse aber von geschultem medizinischem Personal übernommen werden. Bis man einen Effekt sieht, sind mehrere Behandlungen nötig. Wie oft und in welchem Abstand sie am besten stattfinden sollten, ist noch unklar.

Grundsätzlich gibt es nur wenige wissenschaftliche Daten dazu, wie lokale Therapien bei chronischen Wunden wirken. Vergleichende Studien sind rar. Daher hängt viel von der Erfahrung der Wundexperten ab. Stürmer sagt: »Die Erstellung von individuellen Therapiekonzepten gehört in die Hände von Profis, die sich mit dem Thema Wunde befassen und das breite Portfolio an Behandlungsmöglichkeiten kennen.«

Hilfe für die Wundheilung

Schädliche Einflüsse mindern: Auf Rauchen verzichten, Alkohol nur in Maßen genießen.
Aktivität: Bewegung wirkt sich positiv auf die Wundheilung aus. Auch kleine Übungen (Fußwippen und -kreisen) haben bereits einen Effekt. Ansonsten sind etwa Spazierengehen und Radfahren empfehlenswert.
Gewichtsmanagement: Bei Übergewicht Strategien zum Abnehmen entwickeln und umsetzen. Ernährungsumstellung und ausreichende Bewegung können helfen.
Ernährung: Eine ausgewogene, vielseitige Ernährung unterstützt das Immunsystem. Negativ wirkt sich Mangelernährung aus, von der Senioren häufig betroffen sind. Daher sind alte Menschen besonders gefährdet, chronische Wunden zu entwickeln.
Risikofaktoren beobachten: Bei Diabetikern sind gut eingestellte Blutzuckerwerte wichtig, damit die Heilung voranschreiten kann. Außerdem sollten sie Schuhe tragen, die keinen Druck auf die Füße ausüben. Vorbeugend ist es wichtig, gut auf die Füße zu achten und sie sorgfältig zu pflegen. ast

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