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Christiane Rösinger: Vorspiel zur Revolution

Revue jetzt, Kämpfe demnächst: »Die große Klassenrevue« von Christiane Rösinger am HAU Berlin

  • Luise Meier
  • Lesedauer: 5 Min.
Dieses Spiel besticht vor allem durch die wohltuend lustvolle Dreistigkeit und Trotzigkeit.
Dieses Spiel besticht vor allem durch die wohltuend lustvolle Dreistigkeit und Trotzigkeit.

In »Die große Klassenrevue« von Christiane Rösinger, die den thematischen Spielzeitschwerpunkt »Wem gehört die Welt« am HAU Berlin eröffnet, werden pointenreich vor allem die innerdeutschen Klassenverhältnisse – oder das, was heute vielfach dafür gehalten wird – auf die Schippe genommen.

Eines muss gleich vorweggenommen werden: Nein, dieser mit viel Selbstironie verführende und Hitparadenohrwürmer verwurstende Theaterabend ersetzt weder die Marx-Lektüre noch die harte und kontinuierliche Organisierung und Solidarisierung in Arbeits-, Mieter*innen-, feministischen und Klimakämpfen noch die Arbeit an der Vorstellbarkeit einer Überwindung des Kapitalismus, Extraktivismus und des Patriarchats. Das liegt auch daran, dass die Protagonist*innen aus der herrschenden neoliberal geschmacksverstärkten Diskurssuppe heraus sprechen und das Publikum angst- und schamfrei an der eigenen Suche und Ratlosigkeit teilhaben lassen.

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Dieses Spiel, bei dem sich die prekarisierten Künstler*innen (mit streng genommen kleinbürgerlicher, bäuerlicher, lumpenproletarischer und – vereinzelt – Arbeiter*innenklassenherkunft) der Absurdität, nicht der heutigen Klassenverhältnisse, sondern vielmehr ihrer ideologischen Verschleierung stellen, ohne sie letztlich zu bezwingen, besticht vor allem durch die wohltuend lustvolle Dreistigkeit und Trotzigkeit.

Das Team um Christiane Rösinger verbirgt nicht, ja hat gar keine Lust zu verbergen, dass es sich in einen Kampf wirft, dessen Frontverläufe, Ausgang und Ursachen im Vorhinein gar nicht gewusst, geschweige denn von der Bühne hinunter gepredigt werden können und (den Teil sollte man sich unbedingt dazu denken) dessen historische Traditionen und Lektionen durch eine schmerzhafte Geschichte der Niederlagen und deren Verdrängung abgeschnitten sind. Die KPD etwa, für die man im Anschluss an Piscator, 99 Jahre später, eine Revue erarbeiten hätte können oder wollen, gibt es nicht mehr.

Der Diskurs, der heute zur Verfügung steht und der die Debatten prägt, in denen das Wort Klasse überhaupt vorkommt, heißt Klassismus, meint aber allzu häufig, die analog zu anderen Diskriminierungsformen konstruierte Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft beziehungsweise des Herkunftsmilieus. Schwammig, labyrinthisch, individualistisch und damit wenig tauglich für den Kampf um eine lebenswerte und an den Bedürfnissen aller Menschen ausgerichtete Zukunft. Als Kind Musikunterricht bekommen zu haben etwa gilt als Marker einer bürgerlichen Klassenherkunft. Gilt das aber auch für die Maultrommel, die Bierflaschenorgel oder die singende Säge? Nein? Was aber, wenn die Eltern dazu mit international erfolgreicher antibürgerlicher Performancekunst massenweise Geld verdienen und dieses in Immobilen angelegt haben? Oder wie sieht es mit Mittvierziger*innen aus, die in ihrer Kindheit Pfandflaschen sammeln mussten und heute in ihrem Loft mit Hochbeetterrasse eine Vielzahl an Personal beschäftigen und in ihrer avantgardistischen Kunstfirma Praktikant*innen ausbeuten? Hatte man keine Schuhe, weil die Eltern an die orthopädisch-spirituell positive Wirkung des Barfußgehens auf die Entwicklung einer ganzheitlichen Persönlichkeit glaubten oder trug man die neuesten Sneaker, weil man die bei Karstadt kunstfertig geklaut hatte?

Oder so: Bis wir geklärt haben, in wessen Elternhaus wie viele Bücher standen, wer welches Instrument gelernt hat oder ab wie viel Quadratmetern geerbter Wohnfläche man sich der einen oder anderen sozialen Herkunft zuordnen darf, könnte es durchaus sein, das die AfD in der Regierung sitzt, Elon Musk das Brandenburger Trinkwasser abgepumpt hat, Abtreibung aus demografischen Gründen wieder vollständig verunmöglicht wird, das besagte Eigenheim ebenso, wie die vermietete Einliegerwohnung einem Waldbrand zum Opfer fällt oder unter Wasser steht oder wir in der Notaufnahme abgewiesen werden, weil die KI errechnet hat, dass wir – Stichwort Eigenverantwortung – in der Jugend zu wenig in die eigene Gesundheitsvorsorge investiert hätten.

Und was ist eigentlich mit der internationalen Arbeitsteilung? Was mit den modernen Sklav*innen, auf deren Ausbeutung unser, im weltweiten Vergleich, relativ hoher Lebensstandard und eben auch relativ hoher Prekarisierungsstandard fußt? Ein Glück, möchte man da rufen, ist man keine Theaterkritikerin und muss ebenso wenig wie das Team von »Die große Klassenrevue« auf der Bühne irgendwelche abschließenden Rezepte oder Bewertungen, angelehnt an die bürgerlichen Maßstäbe von Machbarkeit, Kunstsinnigkeit als Destinktionsmerkmal und das konkurrenzbasierte Spiel des Besserwissens, abgeben.

Nein, man kann sich einfach daran erfreuen, dass Rösinger, Irmschler, Sargnagel, Minh Duc Pham und Co das Publikum einladen, Teil dieses quijotischen Kampfs gegen die ideologischen Windmühlen zu werden, mit und weiter zu denken, bis wir uns irgendwann, vielleicht nicht zuletzt angeregt und zusammengebracht durch die bevorstehende Spielzeit am HAU, zu den Verhältnissen durchwurschteln und diese nicht mehr nur interpretieren, sondern auch jenseits der Bühnen verändern.

Oder, um noch einmal Marx zu bemühen: »Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.« Das Theater also, könnte man vielleicht sagen, das einem die Illusionen wie Schuppen von den Augen fallen lässt, wird es erst in der befreiten Gesellschaft geben. Alles andere ist Vorspiel, was nun aber bekanntermaßen die Vorfreude auf das Kommende anfacht und die Reise dorthin nicht nur motorisiert, kurzweiliger und lustvoller macht, sondern überhaupt erst ermöglicht. Tatsächlich scheint mehr noch als im Text, im Zusammenspiel der Performer*innen auf der Bühne mit diesem alle zehn Minuten ausbrechenden gemeinsamen Lachen im Zuschauer*innensaal des HAU 1 die Utopie eines solidarischen statt konkurrenzbasierten Zusammenlebens und -kämpfens auf.

Sie, liebe*r Leser*in hatten sich nun aber bitte ein klares Urteil, eine eindeutige Handlungsempfehlung erhofft? Also gut: Gehen Sie nicht in dieses Stück, wenn sie stattdessen vorhatten, in derselben Zeit eine wirklich revolutionäre Gewerkschaft zu gründen, eine neue (5.?) Internationale zu begründen, einen Streik (wie wär’s denn mal mit einem Mieter*innenstreik?) anzuzetteln, sich auf eine Autobahn zu kleben, für die lokale Küfa zu kochen, einen Superreichen zu enteignen, Rosa Luxemburgs »Akkumulation des Kapitals« zu studieren oder endlich den ersten Band des »Kapitals« (jetzt aber wirklich) zu Ende zu lesen.

Nächste Vorstellung: 23. September
www.hebbel-am-ufer.de

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