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Gegen die Stromlinienförmigkeit
An der Universität in Gießen gibt es die studentisch organisierte Gastprofessur für Kritische Theorie. Eine Bestandsaufnahme
Seit 13 Jahren gibt es an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) eine Gastprofessur für Kritische Theorie. Auch wenn die deutsche Hochschullandschaft sich ihrer jahrhundertealten Geschichte rühmt und ihre Entwicklung eher in Dekaden als in einzelnen Jahren misst, sind 13 Jahre für ein universitäres Projekt heutzutage eine lange Zeit. Diese Zeitspanne wirkt umso länger, wenn es sich – wie im Fall der Gastprofessur für Kritische Gesellschaftstheorie – um ein studentisch organisiertes Projekt handelt. Seit 2010 schreibt der Arbeitskreis der Gastprofessur für Kritische Gesellschaftstheorie der JLU (bis auf wenige Ausnahmen) jedes Semester aufs Neue aus.
In den vergangenen Semestern konnte die Gastprofessur bereits mit verschiedensten Schwerpunkten besetzt werden. Hierzu zählten Antisemitismustheorien, Nationalsozialismus und Erinnerungskultur/-politik, Antiziganismus und Rassismustheorien, Materialistisch-feministische Theorie und Geschlechterverhältnisse, Rechtsextremismus, Psychoanalyse, Politische Philosophie und Materialistische Ökonomiekritik. Dafür konnten unterschiedlichste Wissenschaftler*innen gewonnen werden, wie Christine Resch, Thomas Sablowski, Dirk Martin, Alex Demirović, Susanne Martin, Ljiljana Radonić, Stephan Grigat, Karin Stögner, Sebastian Winter, Ingo Elbe, Ulrike Marz, Jan Gerber, Petra Klug, Dennis Wutzke, Alexandra Schauer, Philip Hogh, Robert Zwarg, Philip Dingeldey oder Tatjana Sheplyakova. Die Gastprofessur ist wechselnd an die Institute der Soziologie und Politikwissenschaft angebunden und stellt für die Studierenden nicht nur eine wertvolle Erweiterung des Lehrangebots dar, sondern bietet außerdem die Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung der Lehre. Sie ist somit besonders eng an die Studierendenschaft gebunden.
Permanent, aber prekär
Zwar zieht Gießen im Vergleich zu Städten wie Frankfurt nur wenige Studierende mit einem initialen Interesse an Kritischer Theorie, an Marxismus oder ganz grundsätzlich einem demokratisierten Universitätssystem an; Ziel der Gastprofessur ist es allerdings nicht, einem eingeweihten Kreis theorieversierter Studierender ein besseres Veranstaltungsangebot zu bieten, sondern einer allgemeinen Studierendenschaft einen Zugang zu Kritischer Theorie zu ermöglichen. Gerade der interdisziplinäre Anspruch war dabei schon immer ein Kernanliegen des Projekts.
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Dieser kleinen Erfolgsgeschichte zum Trotz konnte dieses in Deutschland einzigartige Projekt der Gastprofessur nur wenig Ausstrahlung entfalten. Für Genre- oder Szenevertraute hat sich Gießen einen Namen machen können und der Titel der Gastprofessur hat sich für die Berufenen in der systemischen Karrierelogik als hilfreich erwiesen, um auch mit dem aus ökonomischer Perspektive wenig attraktiven Themenschwerpunkt Kritische Theorie an andere Universitäten berufen zu werden. Darüber hinaus verblieb das Projekt allerdings unter dem Radar und eine Übernahme des Konzepts an anderen Universitäten wurde zwar mehrmals angestrebt (unter anderem in Oldenburg und Basel), konnte allerdings nie die frühe Planungsphase überwinden.
Zugleich konnte sich die Gastprofessur an der Universität nicht abschließend institutionalisieren und verblieb in einem finanziell prekären Zustand. Mittlerweile droht dem Projekt mit jeder neuen Vergaberunde der Haushaltsmittel das Damoklesschwert des Förderungsendes. So hat die Vergabekommission die Gelder, nachdem der Fachbereich in Finanzierungsprobleme geraten ist, bereits um die Hälfte reduziert. Die daraus erwachsenden Probleme liegen auf der Hand. Die Möglichkeiten kritischer Perspektiven sind zu vielseitig, um ein tatsächlich ausreichend ergiebiges Alternativprogramm auf Sparflamme zu bieten. Und die klaffenden Lücken, die allein der Studiengang Soziologie in puncto Kritischer Lehre aufweist, können so nicht abgedeckt werden.
Darüber hinaus ist die Gastprofessur bereits stark normalisiert und in das Studienangebot eingegliedert. Für die Studierenden stellen die Seminarangebote wenig mehr als ein geringfügig erweitertes Veranstaltungsangebot dar, das je nach Bedarf an Credit-Points und passendem Modul- und Zeitslot ausgewählt wird. Die Sichtbarkeit des studentischen Projekts leidet darunter massiv; ein rabiates Gegenprogramm zur Standardlehre kann kaum mehr glaubhaft verkörpert werden.
Studium als Zurichtung
Verallgemeinernd betrachtet lässt sich in den letzten Jahrzehnten eine Verzwergung studentischer Emanzipationsansprüche in Deutschland feststellen. Aber auf welcher mangelhaften materiellen und ideologischen Grundlage findet diese statt? Was hat also neoliberale Subjektivierung im Spezifischen und kapitalistische Vergesellschaftung im Allgemeinen mit der Entpolitisierung, Entsolidarisierung und Stromlinienförmigkeit des Studiums und dadurch auch der Studierenden selbst zu tun?
Die oben skizzierte Situation ist symptomatisch für generelle Probleme, in denen sich Projekte mit einem Anspruch auf kritische Lehre wiederfinden. Das neoliberale System einer Universität post-Bologna-Prozess, die sich zunehmend nach Prinzipien des New Public Management organisiert, setzt Studierende vielfach Belastungen aus. Die Hochschule wird immer mehr als erweitertes Ausbildungs- und Schulangebot im System integriert und – dieser Faktor ist wesentlich – von Studierenden auch in diesem Sinne genutzt. In der gewandelten Systemlogik dieser neuen Universität gibt es zwei Formen der Widerständigkeit, die in einem teilweise widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen. Die Freuden der linken Theorielektüre erschließen sich ohne weiteres nur jenen, die die notwendige Zeit und auch Frustrationstoleranz mitbringen. Mit den Bologna-Reformen ist das Studieren jedoch zu einem zeitlich stark eingegrenzten Zwischenabschnitt in der persönlichen Ausbildungslaufbahn verkommen, in dem zusätzliche, optionale Angebote mit einem kritischen Impuls keinen Platz haben. Daher liegt der Fokus der verfassten Studierendenschaft in weiten Teilen der Hochschullandschaft primär darauf, eine ökonomische und arbeitsvoluminöse Entlastung voranzutreiben und gerade in Zeiten multidimensionaler Krisen zumindest ein Regelstudium ohne größere Brüche und Belastungen zu ermöglichen. Wollen Initiativen im Seminarangebot zugleich ein anspruchsvolles Thema durchdringen und Studierenden Entlastung in Kontrast zum allgemeinen Kursangebot bieten, finden sie sich schnell in einer Zwickmühle wieder. Dieser Widerspruch lässt sich in der aktiven Lehre nicht vollständig auflösen.
Thematische Entschlossenheit
Eine Besonderheit der Gießener Gastprofessur ist die thematische Entschlossenheit, die über die Jahre hinweg am Konzept einer Gastprofessur mit Fokus auf die ältere Kritische Theorie festhielt. Selbstverständlich ist es attraktiv, auch über den Schwerpunkt hinwegzusehen und das große »K« der Kritischen Theorie einer Diversität kritischer Theorien zu opfern. In der Vergangenheit wurde im Arbeitskreis mehrfach die Debatte aufgeworfen, ob eine stärkere Ausrichtung an den kurz- und mittelfristigen Trends studentischer Interessen einen Gewinn an Popularität für die Gastprofessur bedeuten könnte.
Da die ältere Kritische Theorie jedoch außerhalb der Gastprofessur kaum vertreten ist, stellt diese eine wichtige und notwendige Institution für die Lehre an der JLU dar. Leider gehört es in der deutschen Universitätslandschaft generell zur Normalität, dass die ältere Kritische Theorie zu weiten Teilen aus Forschung und Lehre verdrängt wurde, und zwar, obwohl ihre Ansätze der Wissenserschließung beziehungsweise die daraus entstandenen Theorien – gerade jene zu Populismus, Antisemitismus und Ästhetik – nichts von ihrer zeitgenössischen Signifikanz eingebüßt haben. Die Erziehung zur Mündigkeit wäre in der total verwalteten Universität ein Alternativmodell mit Sprengkraft. Darüber hinaus kann die Kritische Theorie durch ihren interdisziplinären Anspruch über Fachrichtungen hinweg Brücken bauen und der zunehmenden Vereinzelung spezialisierter Studiengänge entgegenwirken.
Sofern die Kritische Theorie in den Dienst akademischer und sozialer Emanzipation der Studierenden gestellt werden soll, darf sie sich nicht in allzu wohlfeiler Kritik von der Sorte erschöpfen, die letztlich doch wieder als Ventil in die Herrschaftspraxis integrierbar ist oder in einen bequemen Defätismus mündet. Vielmehr gilt es, neben den gesellschaftlichen Pathologien auch die Widerstandspotenziale aufzuzeigen und das Ausbleiben dieser konkret zu analysieren.
Ein naheliegender Gegenstand sind hier die sozialen, psychologischen und ökonomischen Verwerfungen der vergangenen Jahre, die, beschleunigt durch die Corona-Maßnahmen, die Vereinzelung und konformistische Einigelung der Studierenden vermehrt und verstärkt haben. Die gesamte soziale Praxis des Studierens wurde durch digitale Lehrkonzepte auf Bildschirmformat verflacht, die funktionale Zurichtung des Studiums, das auf das bloße Absolvieren von Kursen zum Erhalt von ECTS-Punkten reduziert war, belohnte noch mehr als zuvor Scheuklappen und stromlinienförmige Studienverlaufspläne.
Studierenden stand (und steht) oftmals sowohl psychisch als auch finanziell das Wasser bis zum Hals. Wenn aber die Lebensumstände der Menschen prekär sind, ist ein Projekt, das auf ehrenamtlichem Engagement von Studierenden fußt, ebenfalls prekarisiert. Für das Fortbestehen des Gießener Arbeitskreises – wie für emanzipatorische Projekte im Allgemeinen – ist es essenziell, diese Lebensrealitäten auf eine Weise zu adressieren, die bei den Studierenden den Brückenschlag vom Bewusstsein der eigenen Problemlage zum gemeinschaftlichen Handeln ermöglicht.
Notwendigkeit der Vernetzung
Um die Zurichtungen des entfremdeten, deformierten und prekarisierten Studiums zu überwinden, werden Seminare und Lesekreise mit kritischem Inhalt zwar notwendig, aber nicht hinreichend sein. Sofern sie mittelfristig nicht an eine soziale Praxis gekoppelt werden, die eine Vernetzung und strategische Kooperation von emanzipatorischen Initiativen im gesamten Bildungsbereich anstrebt, haben diese kritischen Angebote keinen gesellschaftlichen Resonanzboden und können sich nicht langfristig erhalten.
Insbesondere mit Bewegungen und Projekten, die sich gegen den kapitalistischen und autoritären Modus Operandi der akademischen Sphäre und deren vorbereitende Ideologieproduktion im Schulsystem richten, wäre eine Zusammenarbeit wünschenswert. Dies betrifft zum Beispiel studentische Initiativen und solche, die gegen die Prekarisierung des akademischen Mittelbaus kämpfen. Ebenso wichtig ist es aber, in der Gesamtbevölkerung ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was etwa Konkurrenz und Selbstausbeutung an der Uni mit Burnout in der Arbeitswelt zu tun haben – oder wie die Verflachung des Studiums phantasielose Technokrat*innen erzeugt, die den elenden Zustand nur noch verwalten.
Dieser Beitrag erschien außerdem in dem Reader »Marx an die Uni! Widersprüche studentisch organisierter Lehre« anlässlich der diesjährigen Wiederbesetzung der Gastprofessur für kritische Gesellschaftstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt. Herausgegeben wurde der Band vom AK Kritische Gesellschaftstheorie, der Fachschaft des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und dem AStA der Goethe-Universität.
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