Die Systemfrage im Gesundheitswesen

Auch in Brandenburg droht ein Kliniksterben und auch in Berlin wirkt sich die Krankenhausreform aus

»Keine Nachricht erzeugt bei Menschen so viel Angst wie die Nachricht: Das Krankenhaus schließt.« Aber nicht nur das hat Berlins Linksfraktionschef Carsten Schatz erfahren. Während der Corona-Pandemie hat er gelernt: »Viele Menschen haben gar keinen Hausarzt.« Auch deshalb habe es die Impfzentren geben müssen.

Wenn das aber so ist, wie soll das funktionieren mit der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) betriebenen Krankenhausreform? Denn die beruht ja nicht zuletzt auf dem Grundgedanken, ein nicht geringer Teil der stationären Versorgung in Kliniken könne durch ambulante Behandlungen der niedergelassenen Ärzte abgelöst werden. Linksfraktionskollege Steffen Zillich schätzt ein: »Die Krankenhäuser können nicht davon ausgehen, dass die ambulante Versorgung funktioniert. Die funktioniert nicht – jedenfalls nicht überall.«

Weitgehend einig sind sich die beiden Oppositionspolitiker in dieser Frage mit Johannes Danckert, dem Chef der städtischen Vivantes-Kliniken. Es sei »völlig ausgeschlossen«, schnell ambulante Strukturen aufzubauen, sagt Danckert. Man bräuchte dafür Hilfe. Denn man könne kein modernes Elektroauto konstruieren, wenn alles auf den Oldtimer Ford Model T ausgerichtet sei. Der wurde übrigens von 1908 bis 1927 hergestellt und in diesem vergleichsweise langen Zeitraum technisch kaum verändert.

So ähnlich verhält es sich mit der zweigeteilten medizinischen Versorgung in Deutschland. Es gibt die Klinken mit angestellten Ärzten und die Praxen mit Ärzten, die als selbstständige Unternehmer agieren. Nach Überzeugung von Gisela Neunhöffer von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi müsste man hier die »Systemfrage stellen«. Das überkommene System sei »antiquiert«. Man bräuchte vielleicht die alten Poliklinken der DDR zurück. »Aber wer soll die betreiben? Wo sollen die sein? Wer soll da arbeiten?«

Linksfraktionschef Schatz muss schmunzeln. »Die Systemfrage stellen, da sind wir Expert*innen drin«, versichert er. Aber für eine sozialistische Gesellschaft scheint die Bundesrepublik nicht reif zu sein. Das zeigen nicht zuletzt die Wahlergebnisse und die Umfragewerte der AfD, die eine völlig entgegengesetzte Tendenz hat.

Das sind Entwicklungen, die auch Vivantes-Chef Danckert Sorgen machen. »Wenn in Marzahn-Hellersdorf in den nächsten zehn Jahren 60 Prozent aller Hausärzte in Rente gehen, dann haben wir dort Verhältnisse wie in der Uckermark.« Über die in Brandenburg immer stärker gewordene AfD sagt Dankert: »Das macht mir Angst.« Wie es dazu kommen konnte? Danckert schaut über den Tellerrand der medizinischen Versorgung hinaus und erzählt: Wenn er in einer Auslandsreportage im Fernsehen eine Schule in Frankreich sehe, allein die Turnhalle, dann müsse er sagen, so eine Turnhalle habe er als Schüler selbst nie erlebt und jetzt auch nicht als Vater bei seinen Kindern. »Da fällt alles zusammen.«

Trotz aller Kritik am Verfall der Infrastruktur und an den Details der Krankenhausreform kann sich Danckert mit dem Grundgedanken, die medizinische Versorgung neu zu denken, durchaus anfreunden. Er kennt niemanden, der gern eine Nacht länger im Krankenhaus bleiben möchte. Das würden sich höchstens Angehörige wünschen, die nicht wüssten, wie sie den Patienten zu Hause pflegen sollen. Bei kürzeren und selteneren Klinikaufenthalten würde man 24 oder 25 Prozent weniger Betten benötigen – und entsprechend weniger Personal. Das klingt für den Vivantes-Chef nach einer guten Sache. Schließlich gibt es jetzt schon Schwierigkeiten, Ärzte und Pflegekräfte zu finden, und dies wird in Zukunft noch komplizierter werden.

Trotzdem kann Gewerkschafterin Neunhöffer der Lage nichts Positives abgewinnen. »Wir sehen massive Probleme in der Krankenhauslandschaft«, sagt sie. Es gebe einen Investitionsstau und außerhalb Berlins auch eine »Insolvenzwelle«. Die Marktbereinigung bei den Krankenhäusern erfolge in einer zynischen, krassen Weise. Denn das Kliniksterben erfolge ungesteuert. Es werde nicht geschaut, wo man Krankenhäuser benötige.

Als Beispiel nennt Neunhöffer das kommunale Elbe-Elster-Klinikum mit Standorten in Herzberg, Finsterwalde und Elsterwerda. Alle drei Standorte wären nicht überlebensfähig. Darum sei die Idee sehr gut, anstelle der drei Häuser ein einziges neues Krankenhaus gut erreichbar für alle Patienten in der Mitte des Landkreises in Doberlug-Kirchhain zu bauen. Aber das würde rund 150 Millionen Euro kosten.

Der Landkreis habe das Geld nicht. Der Bund verweise auf die Zuständigkeit der Länder für Krankenhausinvestitionen. Brandenburg hat die notwendigen Mittel aber auch nicht. So bleibe nur übrig, Fachabteilungen zu schließen, beklagt Neunhöffer. Dass durch ein Kliniksterben in ländlichen Regionen Personal für die überlebenden Krankenhäuser frei würde, sieht sie nicht. Die Krankenschwestern würden nicht umziehen, sondern sich eher da andere Jobs suchen, wo sie jetzt leben. Damit ginge insgesamt Pflegepersonal verloren, warnt die Gewerkschaftsfunktionärin.

Das Elbe-Elster-Klinkum ist zwar noch nicht pleite, aber Landrat Christian Jaschinski (CDU) spricht davon, dass »hochgradig gravierende Einschnitte« notwendig seien, um die Krankenhausreform »zu überleben«. Das Klinikum selbst erklärt, es sei wie etwa 70 Prozent der Krankenhäuser bundesweit durch unzureichende Vergütung in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Neun Millionen Euro Defizit sind im laufenden Jahr entstanden, für kommendes Jahr droht ohne drastische Sparmaßnahmen eine Lücke von elf Millionen. Geschlossen werden soll nun beispielsweise die Geburtshilfe in Herzberg. Bislang kommen dort pro Jahr etwa 500 Babys auf die Welt.

Das Krankenhaus in Berlin-Kaulsdorf verzeichnet 750 Geburten im Jahr. Für eine Klinik in der Hauptstadt sei diese Zahl gering, erläutert Vivantes-Chef Danckert. Er möchte aber über die Landesgrenze hinausschauen. Nebenan im brandenburgischen Strausberg gebe es keine Geburtsstation.

In Berlin gibt es kurze Wege. So verfügt das Wenkebach-Krankenhaus in Tempelhof seit September vergangenen Jahres nicht mehr über eine Rettungsstelle. Da fragen sich Anwohner besorgt, wo sie hingehen sollen, wenn ihnen etwas zustößt. Doch das Auguste-Victoria-Klinikum in Schöneberg ist nur drei Kilometer entfernt.

Kniffliger wird es, wenn Somatik und Psychiatrie bewusst immer zusammen an einem Standort angesiedelt wurden, diese sinnvolle Verbindung beider Fachrichtungen aber im Zuge der Krankenhausreform gelöst zu werden droht, wie die Berliner Abgeordnete Manuela Schmidt (Linke) anmerkt.

Und dann steht noch eine andere, sehr existenzielle Frage im Raum. Ende August reichten 30 Betreiber beispielsweise der DRK-Kliniken und des Jüdischen Krankenhauses Klage gegen die 500 Millionen Euro Sondermittel ein, mit denen das Land Berlin die städtischen Vivantes-Kliniken in den Jahren 2019 bis 2022 unterstützte. Die Kläger sehen darin eine Wettbewerbsverzerrung. Sie hätten auch gern entsprechende Summen vom Senat, der das Geld dafür aber nicht übrig hat. Sollte die Justiz entscheiden, dass Vivantes die 500 Millionen Euro zurückzahlen muss, »wären wir pleite«, gesteht Geschäftsführer Danckert.

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