»Death Drive« an der Volksbühne Berlin: Stop Hating Sense!

Wenig Sprache, viel Gezappel: Der Ritualreigen »Death Drive«

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Ist Desinteresse für Handlungszusammenhänge auch Parteinahme für Vergeblichkeit?
Ist Desinteresse für Handlungszusammenhänge auch Parteinahme für Vergeblichkeit?

In der ersten Reihe sitzen die Toten: Skelette aus der anatomischen Sammlung starren auf fünf Herren in grauen Mönchskutten, die mit Schlagwerk und Blechblasinstrumenten ausgestattet sind. Es folgt Easy Listening und ein Paartanz in variierenden Sex-Stellungen: Steven Fast und Kyle Patrick zeugen so ein gigantisches Ei, was sie post-koital auf die Bühne ziehen. Aus dem schlüpfen Benny Claessens, Kathrin Angerer und Susanne Bredehöft in beigen Kleidern. So startet »Death Drive«, die erste Produktion des belgischen Regisseurs Benjamin Abel Meirhaeghe an der Volksbühne. Untertitel: »Everything Everyone Ever Did«. Wir verbleiben in einem mystischen Reich mit Bums und Geheul.

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Was 100 Minuten folgt, ist eine Art Ritual-Reigen. Es wird viel getanzt, sich zumindest auffällig bewegt, sehr selten gesprochen. Die Darsteller bauen kleine Nester – oder sind es Osterfeuerkonstruktionen? – für Eier, tragen dabei Midsommar-Kleidchen. Visuell tut sich viel auf der Bühne: Ständig wechseln die Kostüme. Vorhänge vorhängen: Was die meist eint, ist ein Loch in der Mitte. Im Foyer wird später die Interpretation vorgeschlagen, dass alles als einen langen analen Witz zu verstehen. Vielleicht ist das ausgestellte Desinteresse für Handlungszusammenhänge auch Parteinahme für Vergeblichkeit.

Denn Susanne Bredehöft erzählt vor Vorhang mit Blumen in Bierglas die Geschichte eines Mannes, der auszog, um festzustellen, dass am Ende der Straße nur ein Haufen Kaninchenscheiße auf einen wartet. Beerdigungserde aus Blecheimern wird rumgeworfen. Katharina Angerer spricht einen kosmologischen Monolog mit Kinderstimme, der mündet in: »Ich habe alles gesehen./ Es gibt nichts mehr zu sehen.«. In derselben Szene watschen sich die Darsteller mit Tortilla-Fladen, während sie Wasser im Mund haben. Inga Busch trällert völlig unvermittelt ein Wiegenlied im Nina-Hagen-Stil. Claessens watschelt gegen Ende als lieber Gott mit Rauschebart umher, verschwindet dann mit Jogginghose und Bubble-Tea. Davor spielte die Band Beat’n Blow vor der Bühne »Final Countdown«. Allgemein haben die Musiker viel zu tun: blasen den Trauermarsch wie »My Way«.

Prä-Slapstick-Scherze machen das Publikum regelmäßig lachen. Eine Besucherin filmt sogar heimlich, während die Darsteller in einem Modenschau-Marsch über die Bühne staksen und stampfen. Ein Gast behauptet, dreimal geweint zu haben, weil sowas im Theater möglich ist und nicht nur pseudo-intellektuelles Vollsülzen. Ein paar Leute verlassen auch den Saal. Als Lektüre für den Abend werden u. a. Nietzsche, Viriginia Woolf, die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein empfohlen. Der Kokainist, Nervenarzt und Patriarch Sigmund Freud, Entdecker des Todestriebs, fehlt. Schöpferische Zerstörung ist laut Schumpeter Innovationsmotor des Kapitalismus. Das spielt vielleicht eine Rolle, wie eben Todesriten und Nihilismus an sich. Der Abend an der Volksbühne bleibt ein loses, selbst-referenzielles Spektakel, an dem ein bisschen gekichert wird: Einfälle für eingeweihte Abgebrühte.

Nächste Vorstellungen: 27.11., 3.12., 26.12.

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