Welche Lehren man nicht aus Pisa ziehen sollte

Die bisherige Ursachenforschung der Politik greift zu kurz

  • Guido Sprügel, Hamburg
  • Lesedauer: 5 Min.

Erfan kann sich eigentlich gar nicht mehr richtig an einen »normalen« Schultag erinnern. Seit dem Übergang in die 11. Klasse einer Stadtteilschule im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel gab es eigentlich so gut wie keinen einzigen Schultag, der dem Stundenplan entsprach. »Ausfall« ist für den 16-Jährigen das Wort des Jahres. Mal beginnt der Unterricht um zehn, mal sogar erst um zwölf. Und endet dann bereits um 14 Uhr. Viele Lehrer sind erkrankt. Dazu kommen Elternzeiten. Eine gute Vorbereitung für das Abitur sieht anders aus. Dabei hat man im Bundesdurchschnitt sogar Glück gehabt, wenn man auf eine Schule in angesagten Vierteln einer Großstadt geht.

Unterrichtsausfall, Quereinsteiger und überlastetes Personal sind in Deutschland mittlerweile die Regel. Zwischen 13 000 bis 20 000 Lehrer fehlen aktuell im Land. Tendenz steigend. Bildungsforscher warnen, dass es eigentlich nur noch Gymnasien gelingt, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden. Und ländliche Regionen drohen stellenweise gänzlich abgehängt zu werden. Mitten in diese sich verschärfende Katastrophe platzte nun wieder die Pisa-Studie beziehungsweise -Bombe herein. »Schock«, »Debakel«, »schlecht wie nie« war danach in den deutschen Medien zu lesen. »Insgesamt handelt es sich bei den Ergebnissen von 2022 in allen drei Kompetenzbereichen (Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften) um die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden«, konnte man in der Studie selbst nachlesen.

Kurz nach ihrer Veröffentlichung begann dann – wie schon bei vorangegangenen Studien – die Ursachenforschung. Corona war schnell als Begründung zur Hand. Die Schulschließungen seien schuld. Doch bei genauerer Betrachtung wurde deutlich, dass auch Staaten wie Dänemark und Schweden, die ihre Schulen beinahe die ganze Corona-Zeit über offen gehalten hatten, in der Studie Federn gelassen haben.

Die Kultusministerkonferenz verwies darauf, »dass im Zuge der Zuwanderung viele Schülerinnen und Schüler in die Schulen aufgenommen wurden. Darunter befindet sich eine erhebliche Anzahl ohne deutsche Sprachkenntnisse«. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) stieß in ein ähnliches Horn: »Zudem hat sich gerade in Deutschland die Schülerschaft deutlich verändert: Die Zahl der Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern hat erheblich zugenommen.« Die Studie zeige, dass die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland seit 2002 um rund 50 Prozent gestiegen sei. Der schulpolitische Sprecher der AfD-Fraktion Hamburg, Alexander Wolf, sah sogar die »falsche Asyl- und Migrationspolitik« in Gänze als Wurzel allen Übels.

Also sind die vielen Migranten Schuld an der Misere? Ein gefährliches Manöver, das schnell und leicht von den vielschichtigen Ursachen ablenkt und Wasser auf die Mühlen von Rechtspopulisten ist. Das Jugendforum Brandenburg warnte sofort vor »der Hetze gegen unsere Mitschüler und Freunde mit Migrationshintergrund (…) – sie werden als ›bildungsfern‹ dargestellt und schnell zu Sündenböcken. Diese rassistische Erzählung, das wissen wir als Schüler selbst am besten, ist falsch, hetzerisch und menschenfeindlich«, so formulierte es Jannis Buder vom Jugendforum Brandenburg in einem Leserbrief. Und betonte weiter: »Unsere nicht-deutschen Freunde sind nicht dümmer«. Den wirklichen Grund für das offensichtliche Versagen des deutschen Schulsystems sehen die Jugendlichen in »einer verfehlten Bildungspolitik, die vor allem an den fehlenden Investitionen des Staates auszumachen ist. Deutschlandweit unterfinanzierte Schulen leiden an mangelnden oder veralteten Ausstattungen, überlasteten Lehrer und unzureichenden Lernmaterialien«.

Interessant an der gesamten Debatte ist jedoch noch ein weiteres Detail: Scheinbar haben sich alle Debattenteilnehmer darauf verständigt, die Pisa-Studie grundsätzlich erst einmal ernst zu nehmen. Doch warum eigentlich? Ein genauerer Blick scheint angebracht. »Ich finde es befremdlich, dass wir uns mit Nationen wie Singapur, Korea und Japan vergleichen. Die haben ganz andere Probleme im Hinblick auf ihre Kinder. Dort herrscht so ein großer Druck im Hinblick auf einen hohen Bildungserfolg, dass viele Kinder psychisch erkranken«, warnt Marcel Helbig, Arbeitsbereichsleiter für Strukturen und Systeme am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg gegenüber »nd«.

Und schaut man sich die Studie einmal genauer an, wird deutlich, dass sie vielleicht auch etwas überbewertet wird. Um Länder wie Algerien, Deutschland und Singapur vergleichbar zu machen, werden nämlich oftmals sogenannte Kompetenzen abgefragt. Durch Gebrauchstexte wird die Lesekompetenz geprüft. Vielfach gibt es Aufgaben zum Ankreuzen, was auch ohne komplexe Denkmanöver gelingen kann. Und dann ist manchmal auch nicht klar, wer miteinander verglichen wird. Die teilnehmenden Länder entscheiden selbst, wie sie ihre Stichprobe zusammenstellen. »In anderen Ländern kann es vorkommen, dass am Tag der Pisa-Erhebungen den schlechteren Schülern vielleicht nahe gelegt wird, sich krank zu melden«, so Heiner Barz, Leiter der Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.

Und auch an anderer Stelle treibt die Studie beinahe Stilblüten. »Glaubt man den aktuellen Pisa-Messungen von 2023, dann verfügt Kambodscha über das ›gerechteste‹ Bildungssystem der Welt – wenn man indessen berücksichtigt, dass Kambodscha auf der Pisa-Rangliste den allerletzten Platz mit 336 Punkten belegt, dann dürften sich Forderungen wie ›von Kambodscha lernen‹ doch recht schnell verflüchtigen«, fügt Barz im Gespräch mit dem »Tagesspiegel« hinzu. Kein Wunder, dass es immer wieder Forderungen nach einem Ausstieg Deutschlands aus der Studie gibt.

Doch selbst wenn man die Studie als erneuten Weckruf begreift, so sind die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen alles andere als eindimensional. Der Lehrermangel trifft hauptsächlich die nicht-gymnasialen Schulformen, Stadtteile sind in Deutschland – und mit ihnen einhergehend auch die Schulen – oft fein säuberlich in arm und reich getrennt und die Hauptlast der Inklusion tragen ebenfalls nicht die Gymnasien. Hinzu kommt, dass viele Menschen, die mit den Fluchtbewegungen seit 2015 nach Deutschland kamen, eher in den nicht so gut situierten Stadtteilen der Städte unterkamen. Ihnen die Schuld daran zu geben und ihren Anteil in den Schulen zu kritisieren blendet hingegen eine Tatsache aus – in einem marktdominierten Umfeld kann man sich den Wohnort schlicht und ergreifend nicht aussuchen.

Erfan sind die Debatten um Pisa ziemlich schnuppe. Er macht sich ganz konkrete Sorgen, dass nach den schwierigen Jahren seit seiner Flucht aus Afghanistan nun sein Abi in Gefahr ist.

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