Kolossale Jugend: Immer noch durchschlagend

Angriffslust und Ratlosigkeit mischen: Das Gesamtwerk der Hamburger Band Kolossale Jugend ist neu erschienen

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Satztrümmer singen: Kolossale Jugend 1989 mit Kristof Schreuf (1.v.r.)
Satztrümmer singen: Kolossale Jugend 1989 mit Kristof Schreuf (1.v.r.)

Wenn man Ende der 80er Jahre keinen Bock auf deutsche Texte hatte, zum Beispiel wegen Postfaschismus generell oder Neuer Deutscher Welle, aber aus verschiedenen Gründen nicht auf Englisch singen wollte, blieb nur der bestenfalls radikale Schlenker über die Metaebene. Dekonstruktion, in der einen oder anderen Form.

Das war damals eh sehr beliebt, auch an den hiesigen Unis, mit ein wenig Verspätung im Vergleich zu den USA und Frankreich. Hamburg war, wenn es um intellektualisierten Schraddelrock und so Sprachsachen ging, die Zentrale. Blumfeld fuhren Unmengen an komplizierten Textmassen auf, die Sterne arbeiteten mit sehr besonderen Metaphern, aber immer mit erkennbarem Songthema (oft das Ich des Sängers), Cpt. Kirk &. assoziierten so frei wie fokussiert drauflos.

Am Anfang von all dem aber standen die zwei Alben der Kolossalen Jugend, »Heile Heile Boches«, 1989, und »Leopard II«, 1990. Der Sänger Kristof Schreuf zerhackte Sätze so, dass etwas Neues, erst einmal Unverständliches entstand. Er sang Satztrümmer: »Das und den genannt / Bekomme Hälften, Reste, Falsches / Linkt ab, kann es fassen / Letzter Unsinn ab dafür / Das und den genannt / Bekomme Hälften, Reste, Falsches«. Sowas hat, damals wie heute, ansonsten niemand gemacht. Wo sich bei Cpt. Kirk &. und den ungleich zugänglicheren Sternen schnell neuer Zusammenhang und Sinn herstellten, flog die Sprache in der Musik der Kolossalen Jugend erst einmal kaputtfragmentiert aus dem Fenster. Die Hörer*innen durften das Zeug dann einsammeln.

Dekonstruktion aber auch hier nur erst einmal und bis auf Weiteres. Oder auch Destruktivität, vielleicht besser? Denn Destruktivität, die nicht scheiße ist, lässt etwas Neues entstehen, auch hier, wenn auch nicht gleich Zusammenhang und Sinn. Im Refrain des Stückes »Hund«, dessen erste Strophe oben zitiert ist, legt Schreuf dann richtig los: »Den Vorhang reißt auf / Es singt das Land / Es liegt der Hund begraben«. Die Stimme macht hier einen Unterscheid. Die klingt anstrengend, fordernd, nach Beschwerde und gerechtem Zorn: ein Ton, der sich ins Ohr fräst. Und schon die so nie wieder gehörte Mischung aus maximaler Dringlichkeit (Tonalität) und Rätselhaftigkeit (Semantik) ist ungebrochen überzeugend und bezaubernd, auch 35 Jahre später noch.

Vielleicht ist zumindest eine Zeile der Kolossalen Jugend dann doch auch, neben allem, was sie sonst noch bedeuten kann, programmatisch, aus »Alle Feind«, einem ihrer schönsten Stücke: »Angriffslust und Ratlosigkeit mischen«.

Die Assoziationen sind da, sie entstehen in Kopf und Körper von Hörerin und Hörer, hier entscheidet sich, ob die Kolossale Jugend wirken kann oder nicht. Wenn sie wirkt, ist ihre Wirkung von Dauer, man kriegt diese Lieder nicht mehr aus dem Ohr, und was die pophistorische Bedeutung angeht, kann man das schmale Gesamtwerk des 2022 verstorbenen Kristof Schreuf (es folgte noch eine ebenso tolle Platte mit der Band Brüllen und das dann wieder ganz anders gestimmte Soloalbum »Bourgeois With Guitar«) eh nicht überschätzen.

Wem antideutsches Denken und Fühlen nicht fremd ist, der hört in dem Song »Hund« der Reihe nach »reißen«, »Land« und »begraben« sowie eine deutsche Redewendung und kann an die Wörter andocken. Wenn man zum Beispiel Heinz-Rudolf »Ich bin auch ein Vertriebener« Kunze ist, kann man nicht an die Wörter andocken. Oder versteht wieder einmal alles falsch. Damit es auch die ganz Doofen noch begreifen, hat die Kolossale Jugend Anfang der Neunziger, als Geschenk zur Wiedervereinigung, noch ein T-Shirt mit Aufdruck in einfacher Sprache drucken lassen: »Halt’s Maul Deutschland«.

Hinter diesen Texten verschwindet die Musik leider immer wieder etwas. Das Blumfeld-Problem. Die Musik der Kolossalen Jugend ist sehr gut, das Schlagzeug und Gitarre nerven unterschwellig, aber beharrlich, der Bass wumpert. Das ist schon vor allem eine Bühne für den ja gleichfalls bewusst nervigen Sänger. Aber eben eine passgenau ausstaffierte, die man sich auch so gerne anschaut, auch wenn niemand auf ihr steht und krakeelt.

Das Gesamtwerk der 1991 nach drei Jahren aufgelösten Kolossalen Jugend – die zwei Alben sowie Stücke, die bis dahin nur auf Singles erschienen waren, und ein Live-Mitschnitt aus dem Forum Enger vom 22. September 1989 – sind jetzt in einer Box wiederveröffentlicht worden. Vinylboxen sind oft ein Grabstein, ein Anzeichen dafür, dass etwas wirklich vorbei und tot ist und bestenfalls noch einmal als teure Antiquität verscherbelt werden kann. In diesem Falle ist das anders. Wenn man vom zeittypischen Sound der Aufnahmen einmal absieht, wirkt die Kolossale Jugend heute noch genauso durchschlagend wie einst.

Kolossale Jugend: »Heile Heile Boches / Leopard II / Fundstücke« (3-LP-Boxset)
(Tapete Records)

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