Schulsystem in Russland: Gewalt als parallele Norm

Regelmäßig werde in Russland Fälle öffentlich, in denen Schüler von Lehrern gedemütigt und geschlagen werden. Was hat es auf sich mit diesem Phänomen?

  • Irina Korneevskaia
  • Lesedauer: 14 Min.

Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2023 berichteten Medien in verschiedenen Regionen Russlands über mehr als 23 Fälle von Gewaltanwendung in Schulen: Lehrpersonen traten Schülerinnen in den Bauch, zerrten sie am Genick aus dem Unterricht, setzten ihnen ein Messer an die Kehle, schlugen sie mit einem Buch oder einer Peitsche und setzten andere Arten von Demütigung und Beleidigung ein.

Im März 2023 sorgte eine Audioaufnahme in den Medien und sozialen Netzwerken der russischen Stadt Tscheljabinsk für Empörung. Darin zwang Danil Plotnikow, Lehrer für Geschichte und Gesellschaft an einer Schule in Kopeysk, einen vor ihm knienden Schüler wiederholt, sich zu entschuldigen. Die Meinungen der Kommentator*innen waren polarisiert. Die eine Hälfte ist überzeugt, dass der Lehrer strafrechtlich verfolgt und nicht wieder in die Nähe von Kindern gelassen werden sollte. Die andere Hälfte meint hingegen, dass der Sechstklässler die Schuld trägt: Er habe den Lehrer in den Wahnsinn getrieben und überhaupt seien die Kinder von heute verwöhnt, frech und unhöflich gegenüber Erwachsenen.

Schulen sind Hauptort für Mobbing

Den Fall an der Schule Nr. 4 in Kopeysk machten Eltern der Schüler*innen von Danil Plotnikov öffentlich. Sie schickten das Video an die lokalen Medien und sprachen mit ihnen über den Vorfall. »Dem Lehrer gefiel das Verhalten des Kindes in der Klasse nicht und er bat ihn, im Klassenzimmer zu bleiben«, berichtet die Nachrichtenplattform 74.RU. »Als alle anderen Kinder den Raum verließen, begann der Lehrer, den Jungen für sein Verhalten zu beschimpfen (der Junge hatte sich während des Unterrichts offenbar über ihn lustig gemacht), erhob dann seine Stimme und begann, den Geräuschen auf der Aufnahme nach zu urteilen, den Schüler zu verprügeln«. In den folgenden Tagen wurde Plotnikov vom Dienst an der Schule suspendiert, die Eltern gaben eine Erklärung bei der Polizei ab und es wurde ein Strafverfahren gegen den Lehrer eingeleitet. Gegen Danil wird nun seit zwei Monaten ermittelt, eine Anklage wurde bisher nicht erhoben.

Überarbeitung, klägliche Gehälter und Lehrer, die ihre Wut an ihren Schüler*innen auslassen, fänden sich an jeder russischen Schule, jede Klasse erlebe ein solches Verhalten, erklärt Marina Petrova (Name auf Wunsch der Expertin geändert – Anm. d. Red.), die Kuratorin eines Projekts, das mit regionalen Schulen arbeitet. Expert*innen sind sich einig, dass Lehrende oft grausam zu Kindern sind, aber es gibt keine offiziellen Daten über Mobbing in Bildungseinrichtungen. Einige Zahlen sind allerdings verfügbar: Eine Umfrage des Forschungsinstitutes VCIOM von 2021 ergab, dass Schulen der Hauptort für Mobbing sind – 38 Prozent der befragten Schüler*innen wurden schon Opfer davon.

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Der Psychologe Dima Zitser ist der Ansicht, dass es im russischen Bildungssystem zwar viele gute, professionelle Lehrer*innen gibt, aber die Demütigung von Schüler*innen eine »parallele Norm« dazu darstellt: »Es ist heute völlig akzeptiert, dass Eltern zu einem Lehrer sagen: ›Sie müssen strenger mit meinem Kind umgehen‹ oder ›diese Lehrerin ist gut, weil sie streng ist‹ – hier zeigt sich, dass diese Eigenschaften oft schlicht gefragt sind.«

Militarisierung des Curriculums

Nach Meinung von Expert*innen erfolgen psychische Zusammenbrüche von Lehrpersonal seit dem Krieg gegen die Ukraine immer abrupter und plötzlicher. Der Grund dafür sei die mediale Kriegspropaganda, die Militarisierung der Schulen und die Arbeit in einem Umfeld, in dem kriegsfeindliche Ansichten große Probleme verursachen können. Zum Wochenanfang wird in den russischen Schulen die Nationalhymne gesungen, die Flagge gehisst und Unterrichtsgespräche nach einem propagandistisch-patriotischen Themenplan geführt, den das Bildungsministerium herausgegeben hat. Das Lehrbuch für Geschichte wurde vor dem Hintergrund der Konfrontation Russlands mit dem »unfreundlichen Westen« komplett umgeschrieben und ein Kapitel über die »besondere Militäroperation« in der Ukraine hinzugefügt. Die Schüler*innen malen im Unterreicht Postkarten für die Soldaten, weben Tarnnetze und beteiligen sich an der Sammlung von Hilfsgütern für die Front. Lehrer*innen werden entlassen und strafrechtlich verfolgt, wenn sie sich im Unterricht gegen den Krieg aussprechen oder auch nur in sozialen Netzwerken Beiträge zur Unterstützung der Ukraine veröffentlichen. Häufig werden Lehrpersonen dabei von Schüler*innen oder Kolleg*innen angezeigt.

Aber schon vor dem Eintritt dieser zusätzlichen Schwierigkeiten befanden sich das Lehrpersonal in Russland bereits in einem extremen Zustand des Burnout, was in erster Linie auf eine übermäßige Arbeitsbelastung zurückzuführen ist. So arbeitet fast die Hälfte der Lehrer*innen mehr als Vollzeit. »Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eines russischen Lehrers beträgt 43 Stunden, von denen 24 Stunden auf den Unterricht entfallen, während die restlichen 19 Stunden für die Planung des Unterrichts, die Benotung von Arbeiten, die Zusammenarbeit mit Kollegen und die berufliche Weiterbildung aufgewendet werden«, heißt es in einer Studie der Shalash Foundation. »Bei einem solchen Arbeitspensum würde jeder durchdrehen«, bestätigt Ivan Bogantsev, ehemaliger Direktor des Europäischen Gymnasiums in Moskau. An seiner »störungsfreien öffentlichen Schule«, sagt er, »gab es ein Moratorium, mehr als 23 Stunden pro Woche zu arbeiten; idealerweise 15 Stunden«.

Der hauptsächliche Grund für diese Überlastung der Lehrkräfte sind die niedrigen Gehälter. Das Durchschnittsgehalt russischer Pädagog*innen mit Hochschulabschluss liegt zwischen 42 000 und 53 000 Rubel, das sind 425 bis 530 Euro – die einzige Gruppe von Fachkräften, deren Gehalt noch niedriger ist, sind Landarbeiter*innen. Laut einer Umfrage der Russischen Akademie für für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANEPA) können nur besonders spezialisierte Lehrende mit höheren Gehältern von einer einzigen Vollzeitstelle leben, während andere gezwungen sind, dazu noch weitere Teilzeitstellen anzunehmen.

Wer übernimmt die Verantwortung?

»Ich lasse euch nicht raus, auch wenn ihr in der Klasse pisst oder kackt«, befiehlt ein Lehrer einem Raum voller Zweitklässler*innen im Kommandoton. »Ich lasse niemanden auf die Toilette gehen, solange der Unterricht läuft. Bringt ein ärztliches Attest mit, dass ihr inkontinent seid, nur dann lasse ich euch gehen. Habt ihr das verstanden? Ihr dürft nur während der Pause gehen.« Diese Audioaufnahme des neuen Klassenlehrers postete die Mutter eines Schülers einer Schule in der Nähe von Moskau im Januar 2023 in einem Eltern-Chat. In der Aufnahme schreit der Lehrer immer weiter, während eine Schülerin im Hintergrund weint. Die Mutter, die die Aufnahme zur Verfügung gestellt hat, hatte sich über eine App mit dem Mobiltelefon ihres Kindes verbunden, um dessen Verhalten in der Schule verfolgen zu können. Zufällig hörte sie den Lehrer herumschreien und nahm das sofort auf.

Die anderen Eltern reagierten schockiert. »Das war ein wirklich unsägliches Gebrüll«, erinnert sich Olga Erbis, Mutter einer anderen Zweitklässlerin. »Der Lehrer schrie das Mädchen an, das ausgesprochen zerbrechlich und schüchtern ist. Ich hörte sadistische Untertöne in seiner Stimme.« Nach dem Unterricht, erinnert sich Erbis, versammelten sich die Eltern auf der Veranda der Schule. Da sie keinen Zugang zum Schulgebäude hatten, riefen sie den Lehrer an und baten ihn, herauszukommen, um »mit ihnen zu sprechen und sich bei den Kindern zu entschuldigen«. Doch der Lehrer weigerte sich. Am nächsten Tag ließ er sich krankschreiben und gab den Kindern die Schuld an dem Vorfall.

»Die Schule stellte es so dar, dass der Lehrer absolut kompetent sei und unsere Kinder der schlimmste Abschaum, der ihn schikaniert habe«, berichtet Erbis. Laut Larisa Glazyrina, die zum Thema Gewalt an Schulen forscht, verlaufen viele Fälle so: »In der Regel leugnet die Leitung einer Bildungseinrichtung den Tatbestand der Gewalt seitens der Lehrer«, schreibt die Expertin in ihrem Lehrbuch »Gewaltprävention in Bildungsorganisationen«. Das Verschweigen von Gewalttaten durch Lehrende – oder auch Schüler*innen – erkläre sich häufig aus dem Unwillen der Leitung von Bildungseinrichtungen, ihrem eigenen Ruf zu schaden.

Auch nach dem oben beschriebenen Konflikt entließ der Direktor der Schule den Lehrer nicht. Allerdings wurde kurz darauf eine neue Direktorin berufen, die dazu bereit war, den Vorfall mit den Eltern zu besprechen. »Sie organisierte eine Elternversammlung und setzte einen anderen Lehrer ein«, berichtet Olga Erbis. Nun würde sich die Lage langsam verbessern.

Eine entmachtete Figur?

Russische Schüler*innen hänseln ihre Lehrer*innen häufig, erfinden Spitznamen, ignorieren sie und weigern sich, Anforderungen zu erfüllen, verletzen absichtlich die Schuldisziplin und zeigen durch Gesten oder Blicke deutlich ihre Verachtung. 70 Prozent der russischen Lehrkräfte haben mindestens eine dieser Formen der Aggression erlebt, und jede zweite Lehrperson wurde mindestens einmal von Schüler*innen bedroht. Vor seiner Suspendierung im März 2023 hatte Danil Plotnikov bereits acht Jahre lang an der Kopeysk-Schule Nr. 4 gearbeitet. Der Konflikt mit einem Schüler, der in den Medien publik wurde, war nicht sein erster. Der Lehrer selbst erinnert sich, wie eine Neuntklässlerin begann, »aggressives Verhalten an den Tag zu legen«: »Sie kam zu mir, trat mich und lief dann weg.« Er habe sich zurückgehalten und versucht, das Problem seinen Vorgesetzten mitzuteilen: »Ich sagte: ›Leute, tut etwas, sonst werde ich mich irgendwann wehren‹. Sie erwiderten: ›Nein, nein, das kannst du nicht, Danil Andrejewitsch. Wir haben aber schon ihre Großmutter gebeten, in die Schule zu kommen‹«. Daraufhin hörte die Großmutter des Mädchens ganz auf, zu Gesprächen in die Schule zu kommen, die Familie wurde vom Sozialdienst besucht und der Schule wurde geraten, dem Kind mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Ein weiterer Vorfall zwischen Plotnikov und dem Vater eines Schülers ereignete sich vor dem Rat für Familien- und Schulunterstützung, wo der Lehrer dem Elternteil erklärte, dass sein Kind eine Klasse wiederholen müsse und ihn außerdem darum bat, seinen Sohn zu entlausen. Daraufhin wurde der Vater des Schülers laut und drohte, den Lehrer »fertigzumachen« und ihm »die Fresse zu polieren«. »Ich habe ihn dann am Revers gepackt und gesagt: ›Mann, bitte beruhigen Sie sich‹«, erinnert sich Plotnikov. Die Vorsitzende habe sich daraufhin an ihn gewandt und gemahnt: »›Danil Andrejewitsch, Sie sind Lehrer‹, worauf ich erwiderte: ›Und Sie sind Vertreterin der Verwaltung und sehen zu, wie einer ihrer Angestellten mit körperlicher Gewalt bedroht wird!‹«

Plotnikov führt seine Probleme am Arbeitsplatz auf die große Anzahl von Schüler*innen aus benachteiligten Familien zurück. Seine Schule steht auf der Liste der »Schulen mit schlechten Bildungsergebnissen«, das heißt, sie gehört zu den 500 schlechtesten Schulen des Landes. Plotnikov erklärt: »In meiner Klasse kamen von 23 Schülern nur drei aus intakten Familien. Im Allgemeinen landen die Menschen in unserem Viertel so: Sie trinken, geben ihr ganzes Geld aus, verlieren ihre Wohnung im Stadtzentrum und kaufen sich eine hier, in der Wohnkaserne.«

Die Versuche, »sehr erschöpfte und verwahrloste« Eltern in der Bewältigung schwieriger Situationen mit ihren Kindern zu unterstützen, scheitern laut Plotnikov meist. »Haben Sie gesehen, wie das Leben in den russischen Vorstädten aussieht? Mit seiner Infrastruktur und Lebensqualität, und – ich bedaure, es zu erwähnen – mit Privathäusern ohne Innenbäder? In einem Land, in dem der Durchschnittslohn unter 35 000 Rubel, also unter 350 Euro liegt? Ich verstehe, dass es für viele Eltern schwer ist, sie kommen schon allein nicht über die Runden und sollen dann noch ein Kind versorgen. Sie werden dafür gescholten, dass es in Schwierigkeiten gerät, können ihm aber schlicht nicht helfen.«

Danil Plotnikov hat die Erfahrung gemacht, dass die Schulverwaltung bei Konflikten zwischen einem Lehrer und der Familie eines Schulkindes in der Regel den Weg des geringsten Widerstands wählt: »Wenn du Schwierigkeiten im pädagogischen Bereich mit einem Kind oder einem Elternteil hast, wird dir die Verwaltung nicht helfen«, sagt Danil. »Sie werden sagen: ›Wenn du damit nicht zurechtkommst, bist du offenbar nicht in der Lage, deinen Job richtig zu machen‹«. Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen und Verwaltung sollten zwar an einem Strang ziehen, aber in Wirklichkeit würden alle gegeneinander ausgespielt. In der heutigen Schule sei der Lehrer die am stärksten entmachtete Figur: »Er ist, wie wir im Süd-Uraler Slang sagen, ›terpila‹, ein Sandsack«.

Helfen ohne Unterstützung

Als die Kopeysk-Schule Nr. 4, an der Danil Plotnikov arbeitete, auf die Liste der Schulen mit schlechten Bildungsergebnissen gesetzt wurde, erhielt sie Anspruch auf ein Hilfsprogramm in Gestalt von erfahrenen Manager*innen, Methodik-Expert*innen und hochqualifizierten Mentor*innen, die für das Lehrpersonal eingesetzt werden. Plotnikov erklärt, er habe nun auf echte Unterstützung bei seiner Arbeit gehofft – aber keiner der Expert*innen und Projektorganisator*innen erschien tatsächlich in der Schule: »Am Ende gab es nur einen Abschlussbericht über andere Berichte sowie eine endlose Zahl zusätzlicher anderer Berichte und obligatorischer Webinar-Bewertungen. Das wäre ja sogar in Ordnung, wenn die Webinare etwas taugen würden, aber in Wirklichkeit sitzt da nur ein Student, der ein Lehrbuch über Pädagogik vorliest«.

Die meisten der von der Shalash Foundation befragten Lehrer*innen gaben an, dass es ihnen schlicht an Wissen über wirksame Methoden für den Umgang mit schwierigem Verhalten fehle. Wie Danil sind sie der Meinung, dass Pädagogik und Kinderpsychologie an den Universitäten nur unzureichend gelehrt werden und dass die Kommunikation mit Kindern und ihren Eltern neue Ansätze erfordert. »Die Kinder sind es gewohnt, angeschrien zu werden«, sagt Marina Petrova. »Und wenn dann eine Lehrerin kommt und sagt, dass sie ihre Stimme nicht erheben wird, fangen die Schüler natürlich an, sie zu provozieren und der Lärmpegel im Klassenzimmer steigt in die Höhe. Hier muss die Lehrerin sich einfach an Ihren Plan halten: Schreien Sie die Kinder nicht an, sondern unterrichten Sie weiter, stellen Regeln auf, geben Feedback«.

Eine solche Arbeit sei psychologisch anspruchsvoll, deshalb könne eine Lehrerin sie nicht allein bewältigen, so Petrova. Der Lehrerberuf sei ein helfender Beruf, weshalb auch die Lehrpersonen selbst psychologische Unterstützung bräuchten. Leider könnten sich die Lehrer*innen in der Regel keine Psychotherapie leisten, auch nicht auf Online-Plattformen. »In den Schulen gibt es nicht einmal genug Psychologen, die mit den Kindern arbeiten können, von den Lehrern ganz zu schweigen«, erkärt Iwan Bogantsew. »Deshalb hat am Ende keiner von ihnen die Kapazitäten, sich um das psychische Wohlbefinden der Kinder zu kümmern.«

Nur noch 62 Prozent der Hochschulabsolvent*innen mit Lehramtsabschluss in Russland entscheiden sich derzeit für die Arbeit an einer Schule – und die Hälfte von diesen bricht innerhalb der ersten fünf Jahre ab und wechselt das Berufsfeld. 60 Prozent der Lehrer*innen sind der Ansicht, dass es über die letzten Jahre hinweg immer schwieriger geworden ist, an Schulen zu arbeiten. Nach Ansicht der Schulleiterin Galina Fomicheva müsste mit jeder Lehrperson, die Schwierigkeiten hat, individuell gearbeitet werden: »Wenn ein Lehrer zu mir kommt und sich über die Schüler beschwert, ist er oder sie in der Position eines Opfers, das gemobbt wird. Früher oder später kann sich ein müder Lehrer nicht mehr beherrschen und rastet aus – so erscheinen all diese Clips im Internet. Das ist meistens nur ein Ausschnitt des Geschehens: Die Kinder filmen nicht, wie der Lehrer nach dem Unterricht weint, sie filmen nur, wie er schlägt oder schreit.«

Ohne ernsthafte strukturelle Reformen führe die Klage, dass die Lehrer*innen überfordert sind, nirgendwohin, meint Iwan Bogantsew. »Eigentlich müsste sich alles ändern: die Löhne, das System für die Auswahl und Ausbildung künftiger Lehrer, das Bildungsprogramm, das Meldesystem und so weiter. Die Tatsache, dass die Lehrer da draußen Nervenzusammenbrüche erleiden, ist leider nur ein Folgeschaden, der nicht getrennt vom Gesamtproblem behogen werden kann.«

»In einer Zeit, in der die Schule militarisiert wird, ist es seltsam zu erwarten, dass dort humanisierte Beziehungen gelehrt werden«, sagt der Psychologe Dima Zitser. »Die Schule ist ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft – tatsächlich mehr als jede andere Institution.« Schulische Gewalt könne gestoppt werden, wenn die Eltern es nicht zulassen würden, dass ihre Kinder gedemütigt, angeschrien oder vergewaltigt werden. Oder wenn 20 von 30 Schüler*innen die Klasse verließen und zu Hause unterrichtet würden. »Aber dafür«, so Zitser weiter, »müssten sich die Erwachsenen auf die Seite der Aufklärung stellen und aufhören, Vergewaltiger zu rechtfertigen oder einem Kind, das sich in einer Gewaltsituation befindet, zu sagen, es müsse eben einfach geduldiger sein.«

In den meisten medial präsenten Fällen von Gewaltanwendung von Lehrer*innen gegenüber Kindern hatten die Eltern allerdings Anzeige erstattet. Dies hat häufig zur Folge, dass auch das Bildungsministerium, die Ombudsperson für Kinder, das Innenministerium, die Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsausschuss in die Angelegenheit einbezogen werden. »Wenn eine solche Geschichte in den Nachrichten auftaucht, erhält die Schule die Empfehlung, den Lehrer sofort zu entlassen«, sagt Galina Fomicheva, die Direktorin einer regionalen Schule. »Keine Behörde reicht etwas Schriftliches ein, sie rufen einfach an und hinterlassen eine ›Empfehlung‹. Eine Woche später rufen sie dann zurück und fragen, ob die Empfehlung umgesetzt wurde. Wenn sich der Schulleiter, aus welchen Gründen auch immer, für den Lehrer einsetzt, haben sie die Wahl, entweder den Schulleiter oder den Lehrer zu entlassen.«

Gewalt prägt alles

Der mittlerweile entlassene Lehrer Danil Plotnikov erklärt, er lebe nun in Angst angesichts der Entwicklung der Situation seit seinem berüchtigten Übergriff: »Alle drei polizeilichen Ermittlungsgruppen, die wir in Kopejsk haben, ermitteln gegen mich, kommen sogar mitten in der Nacht bei mir vorbei.« Plotnikov hat keine Ahnung, wie es nun weitergehen soll. Er hat sich schon fast mit dem Gedanken abgefunden, dass seine Lehrerkarriere zu Ende ist und arbeitet derzeit inoffiziell als Anwalt, was sein zweiter Beruf ist. Er habe zwar gerne Geschichte unterrichtet, fühlte sich aber schon seit langem unter Druck.

Die Schule als einen Ort zu betrachten, an dem Gewalt in Russland besonders verbreitet ist, sei trotz allem auch falsch, betont der Psychologe Dima Zitser. »Es wäre seltsam, wenn die Lehrer die Kinder nicht demütigen würden. Russland zettelt Kriege an, Russland hat die häusliche Gewalt entkriminalisiert. Russland ist sehr stark von Gewalt geprägt, und die Schule als soziale Einrichtung kann diese Situation nur widerspiegeln«, so Zitser. »Nicht nur in der Schule, sondern in unserer Gesellschaft insgesamt ist es üblich, die Schwachen zu demütigen.«

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