Jenseits von Wohlfahrt und Fürsorge

Soziale Arbeit ist »systemrelevant«, tritt aber kaum als politische Kraft auf. Das könnte sich in Zukunft ändern

  • Felix Bardorf und Maximilian Roth
  • Lesedauer: 7 Min.

Soziale Arbeit hat alltäglich mit Armut, sozialen Problemen sowie Diskriminierung zu tun und versorgt – frei nach Frigga Haug – die Wunden, die die Gesellschaft schlägt, leider jedoch ohne diese vom Schlagen abhalten zu können. Gleichzeitig mangelt es der Tätigkeit nach wie vor an gesellschaftlicher Anerkennung. Sozialarbeitende sind in ihrem Arbeitsalltag einer hohen Belastung ausgesetzt und müssen etwa regelmäßig schnellstmöglich Entscheidungen treffen, die im Sinne ihrer Nutzer*innen sein sollen – also derjenigen, die auf sozialarbeiterische Dienstleistungen angewiesen sind. Ziel ist, deren Lebenssituation und Lebensverhältnisse zu verbessern, dennoch bekommt die Soziale Arbeit für ihren Auftrag nur geringe Ressourcen zugeteilt.

Sozialstaat unter Druck

Die Ende der 80er Jahre beginnende und bis heute nicht abgeschlossene Phase der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, die eine Kürzung finanzieller Mittel beinhaltet und mit einer neuen Dominanz betriebswirtschaftlicher Prinzipien einhergeht, bedeutet in dieser Hinsicht eine Zäsur. Mechthild Seithe, ehemalige Sozialarbeiterin, Professorin und Autorin des »Schwarzbuch Soziale Arbeit«, sprach 2014 in einem Blogbeitrag vom »Zwiespalt zwischen neoliberalen Zumutungen und sozialarbeiterischer Fachlichkeit«. Der Widerstand gegen diese Zumutungen, in den auch Seithe viel Kraft und Energie investiert hat, konnte nicht verhindern, dass diese heute den Alltag vieler Praktiker*innen in der Sozialen Arbeit bestimmen und nicht selten als Normalität betrachtet werden.

Der Widerspruch zwischen Fachlichkeit und Ökonomisierung erschwert in hohem Maße auch nachhaltige Lösungen für Nutzer*innen wie eine Verbesserung oder gar Beseitigung der bestehenden gesellschaftlichen Problemlagen. Zu diesen zählen beispielsweise Exklusionsprozesse, Ausgrenzungserfahrungen, Diskriminierung und natürlich Armut. So erleben beispielsweise viele Menschen mit Behinderung Exklusion sowie ein Leben und Arbeiten in Sonderwelten wie Behindertenwerkstätten und Wohnheimen. Und Geflüchtete sehen sich mit institutionellen Rassismus konfrontiert, begleitet von einer stetig voranschreitenden gesellschaftlichen Faschisierung.

Das Bild verkompliziert sich noch weiter, wenn man sich klarmacht, dass Soziale Arbeit gleichzeitig zum Unterstützungsangebot als Straf- und Disziplinierungsagentur auftritt: Sozialarbeitende sanktionieren, ermahnen, kürzen Leistungen und beteiligen sich an Abschiebungen. Die neoliberale Wende hat all dies nicht erfunden, aber sicherlich für Zuspitzungen gesorgt. Aus diesem Grund bildeten sich kritische Bewegungen der Betroffenenselbstorganisation, die sich dezidiert von der Sozialen Arbeit abgrenzen. So betont etwa die Erwerbsloseninitiative Basta!, »Hilfe gepaart mit Kontrolle« gäbe es in der Arbeit der Gruppe nicht: »Wir kooperieren nicht mit der staatlichen Armutsverwaltung und sie unterstützenden Repressionsorganen.«

Sozialarbeitende, die sich im Feld der institutionalisierten Sozialen Arbeit als Lohnarbeitende bewegen, können dem Widerspruch zwischen Kontrolle und Hilfe wohl kaum entgehen. Gleichzeitig verstehen viele ihre Tätigkeit allerdings eher selten als dezidiert politisch oder reflektieren jene Widersprüche überhaupt. Es dominiert eine Berufung auf ethische Prinzipien und der Wunsch, Menschen zu helfen – insbesondere bei Studierenden, die die anschließende Konfrontation mit der Realität in den verschiedenen Berufsfeldern als Praxisschock erleben.

Während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 bis 2022 verharrte die Soziale Arbeit scheinbar in einer Schockstarre. Die »Systemrelevanz« der Tätigkeit war zwar in aller Munde und wurde auch aktiv für eine Anerkennungskampagne des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH) unter dem Titel #dauerhaftystemrelevant aktiv genutzt. Doch als politische Kraft wurde die Profession kaum sichtbar. Auch in der Debatte um den »heißen Herbst« 2022 war sie kaum hörbar – abseits vielleicht von der Demonstration »Solidarischer Herbst«, bei der organisatorisch auch der Paritätische Dienst und die Volkssolidarität involviert waren.

Politisch unsichtbar?

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Aktuell wächst zudem der Druck auf Sozialarbeitende als Lohnarbeitende. Reaktionäre Kräfte, von konservativ bis faschistisch, diffamieren den Sozialstaat als unnötigen Luxus. Daraus folgt eine stetige Hetze gegen diejenigen, die auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind. Doch auch die Dienste der Sozialen Arbeit geraten in diesem politischen Klima unter Rechtfertigungsdruck, schließlich sind sie nicht zu trennen vom angeblich »aufgeblähten« Sozialstaat. Sie müssen Wirkungsnachweise erbringen und mit Einsparungen und Kostendruck umgehen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse und bestehende Unklarheiten bezüglich des Haushalts für 2024 schaffen eine weitere Drohkulisse.

Nun, nach Ende der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und in einer Lage multipler und sich überlappender Krisen, in der das Soziale zunehmend unter Druck gerät, scheint allerdings endlich auch die Bereitschaft von Praktiker*innen und Studierenden der Sozialen Arbeit zu wachsen, sich politisch Gehör zu verschaffen. Sozialarbeitende vernetzen und organisieren sich, um die in der Praxis erlebten Widersprüche ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.

So gingen etwa am 22. Oktober 2023 laut Angaben der »Taz« über 1000 Menschen gegen prekäre Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit und für eine soziale Infrastruktur für alle auf die Straße, aufgerufen von einem vielstimmigen Bündnis aus linken, gewerkschaftlichen und berufspolitischen Gruppen. Unter dem Namen »Vallah es reicht« formierte sich ein weiteres Bündnis, das im Oktober in Berlin gegen Kürzungen im sozialen Bereich demonstrierte, und auch der Paritätische Wohlfahrtsverband veranstaltete am 8. November vor dem Reichstag eine Kundgebung gegen Sozialkürzungen. Zudem fand in Freiburg eine Demonstration unter dem Motto »Sozialkürzungen stoppen!« statt, wo die dortige Regionalgruppe des Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit (AKS) 150 Personen mobilisierte. Die geringe Anzahl an Teilnehmer*innen kommentierte ein Beitrag bei dem freien, nicht-kommerziellen Radio Dreyeckland mit den lakonischen Worten, »genuin linke Themen, wie soziale Gerechtigkeit« würden derzeit »leider nicht viele Menschen auf die Straße« bringen. Trotz dieses eher pessimistischen Fazits scheint doch der Blick »aufs Ganze« nahezulegen, dass etwas in Bewegung gerät.

Die Betroffenen selbst kamen zu Wort

Eine politisch aktive Soziale Arbeit muss außerdem abseits des Kampfes gegen Sozialkürzungen und für bessere Arbeitsbedingungen auch stärker die Kritik derjenigen aufnehmen, die die erzwungene Begegnung mit Sozialarbeitenden und Institutionen des Hilfesystems bisher als Zumutung erlebt haben. Der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg hat 2018 mit einem Tribunal über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung einen guten Aufschlag gemacht und Verhältnisse von Degradierung und Disziplinierung skandalisiert – wobei vor allem die Betroffenen selbst erfahrenes Unrecht geschildert haben.

Auch der Blick auf die Debatten und Kämpfe des »alten« AKS, der sich um 1968 formierte und in dessen Tradition sich der in der 2000er Jahren neugegründete AKS sieht, kann lehrreich sein. So ist etwa die Kritik der sozialarbeiterischen Methoden angesichts der auch weiterhin unkritischen Übernahme von Konzepten und Ansätzen aus der Psychologie oder Psychiatrie weiterhin aktuell. Zudem sollte die damalige Debatte um die Frage »Reform oder Revolution?« wieder ins Bewusstsein gerufen werden, welche auch ein Spannungsverhältnis widerspiegelte zwischen Praktiker*innen, die konkrete Verbesserungen in der Praxis erreichen wollten, und eher kritisch-theoretisch informierten Studierenden. So können vielleicht Wege in politische Sackgassen vermieden werden.

Wie weiter?

Die derzeit entstehenden Solidaritätsbündnisse, Selbstorganisationen sowie die vielen Vernetzungen und Gruppen von Sozialarbeitenden zeigen, dass sich immer weitere Teile der Sozialen Arbeit für eine linke Politisierung sozialer Problemlagen einsetzen. Diese Entwicklung steht aber erst am Anfang und ist nicht frei von Spannungen. Insbesondere der nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober entflammte Nahostkrieg und die teilweise äußerst verhärteten, gegensätzlichen und nicht selten schwer zu ertragenden Positionierungen politischer Gruppen zu dem Konflikt wirken sich erschwerend auf die Bündnisarbeit aus.

Dennoch deutet sich zaghaft die Möglichkeit einer politisch lebendigen und aktiven Sozialen Arbeit an, was auch zeigt, dass sich die Profession der Tatsache bewusst ist, dass die Probleme ihrer Nutzer*innen gesellschaftlich vermittelt sind und entsprechend auch nur durch eine Veränderung dieser Verhältnisse nachhaltig gelöst werden können. Um dahin zu gelangen, braucht es von der Sozialen Arbeit langfristige Organisierung und Praktiker*innen, die zum einen auch in ihrem Arbeitsalltag (selbst-)kritisch, widerständig und parteilich auf Seiten der Nutzer*innen stehen sowie zum anderen die erfahrenen Probleme politisch zum Ausdruck bringen.

Aus der Empörung über menschliches Leid muss (frei nach dem Soziologen Christian Vogel) eine in die Verhältnisse eingreifende Praxis erwachsen. Eine Soziale Arbeit, die diesen Schritt wagt, geht wirklich in die Offensive – und arbeitet damit auch ein Stück weit an ihrer eigenen Überwindung.

Felix Bardorf und Maximilian Roth sind organisiert im Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Berlin. Der AKS besteht seit 2005 als bundesweites Bündnis von kritischen Praktiker*innen, Lehrenden und Studierenden.

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