Ein »lebendiges« Dokument für die Autonomieregion Rojava

Der Gesellschaftsvertrag von Nord- und Ostsyrien wird immer wieder an die Bedürfnisse der Menschen angepasst

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Autonomieregion Nordsyriens, auch bekannt unter dem kurdischen Namen Rojava, hat seit Ende 2023 einen neuen »Gesellschaftsvertrag«, der das Zusammenleben der Menschen auf der Basis von Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und multiethnischem Zusammenleben regelt. Der Verabschiedung dieser »Verfassung« ging ein mehrjähriger Prozess voraus. Welche Chancen ergeben sich daraus für Syrien?

Im Zuge des syrischen Bürgerkrieges erklärten die kurdisch dominierten Regionen im Norden und Osten des Landes 2012 ihre Autonomie vom syrischen Regime unter Baschar Al-Assad. 2014 wurden die drei ersten Kantone Cizîrê, Kobanê und Afrîn ausgerufen. Zu Beginn waren sie komplett unabhängig – und räumlich getrennt. Bedroht wurden die jungen Autonomieregionen nicht nur von Assad und dem sogenannten Islamischen Staat (IS), sondern auch von der Türkei, die Rojava lediglich als verlängerten Arm der Kurdischen Arbeiterpartei PKK betrachtet.

Aufgrund dieser Gefahren begannen verantwortliche Kantonalpolitiker*innen von über 50 politischen Parteien und Organisationen, Treffen zu organisieren und einen ersten Gesellschaftsvertrag zu diskutieren. Dieser sah Grundrechte wie die Gleichstellung der Geschlechter und die Religionsfreiheit sowie eine
dezentralisierte Demokratie für alle Kantone vor und wurde 2014 nach öffentlichen Diskussionen ratifiziert.

Am 17. März 2016 erklärte eine Versammlung von kurdischen, assyrischen, arabischen und turkmenischen Delegierten die Einrichtung des föderalen Regierungssystems »Demokratische Föderation Rojava – Nordsyrien«. Sie erklärte zwar keine Abspaltung von Syrien, beanspruchte allerdings eine weitreichende Autonomie. Auch der Gesellschaftsvertrag wurde erneuert. Dies war durch die Befreiung zahlreicher Regionen vom IS notwendig geworden. Große Gebiete im Norden und Osten Syriens wurden in die Autonomieverwaltung eingebunden.

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Doch waren die Bedingungen für den Aufbau basisdemokratischer Strukturen in den arabischen Gebieten sehr verschieden von denen in den kurdischen Regionen. Wechselseitige Vorurteile und Ressentiments sind nach wie vor präsent. Die Selbstverwaltung ist aber sichtbar darum bemüht, Gräben zu überbrücken. Aus diesem Grund erfolgte auch die Streichung von Rojava aus dem Namen, um deutlich zu machen, dass es sich nicht länger um ein rein kurdisches Projekt handele.

Seitdem besteht die »Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien« als zusammenhängendes Gebiet, das rund ein Drittel des syrischen Staatsgebietes und geschätzt vier Millionen Bewohner umfasst. Die gesamte Region wird von selbstverwalteten Räten und Komitees organisiert, in denen die Bevölkerung direkt an der lokalen Politik teilhaben kann. Auch der Gesellschaftsvertrag wird seit 2018 erneut angepasst. Eine Gruppe aus 158 Politiker*innen, Menschen aus der Zivilgesellschaft und verschiedenen Organisationen arbeitete einen Text aus, der dann der Gesellschaft vorgelegt wurde. Anfang 2022 war ein erster Entwurf fertig, der über mehrere Monate diskutiert wurde.

In Stadtteilen, Universitäten sowie religiösen und kulturellen Zentren konnte die Bevölkerung sich über den neuen Vertrag informieren, ihn kommentieren und verändern. Der Text wurde zudem unter Beteiligung aller ethnischen Gruppen ausgearbeitet. Mustafa Nabo von der Union der Jesiden in Syrien sagte etwa: »Wir als Jesiden waren zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, unsere Rechte in einer Verfassung festzuschreiben. Wir sehen den Gesellschaftsvertrag als Garant für die Rechte der Jesiden.«

Nach diesem Beteiligungsprozess 2022 war es zunächst still geworden um den Vertrag. Die Autonomieverwaltung hatte eine frühere Ratifizierung geplant, was jedoch wegen Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie sowie Kriegsdrohungen und Angriffe aus der Türkei nicht möglich war. Nun wurde der Vertrag jedoch von der obersten Behörde beschlossen. Bald sollen auch Wahlen folgen.

Von den Verantwortlichen wird der Gesellschaftsvertrag als »lebendiges Dokument« verstanden. Damit unterscheidet er sich von Verfassungen westlicher Staaten. Er soll auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren – und er soll weiter veränderbar bleiben. Alle Bürger*innen der Region sollen als Citoyen, als gleichberechtigte Staatsbürger gemeinsam leben können. Damit soll er auch ein Modell für ein wiedervereinigtes, dezentralisiertes Syrien sein. »Wir verstehen den Gesellschaftsvertrag als einen vorbereitenden Text für den Demokratisierungsprozess in ganz Syrien«, sagt etwa Amina Omar. Sie ist Ko-Vorsitzende des 2015 gegründeten Demokratischen Rats Syrien. »In Rojava haben wir gesehen, dass der Gesellschaftsvertrag funktioniert, und das kann er auch für ganz Syrien leisten«, ergänzt sie.

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