Lebensgleichnisse

Neuere Arbeiten von Michael Morgner in der St. Matthäus-Kirche im Berliner Kulturforum

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 5 Min.

In dem schlichten, weiß gestrichenen Kirchenraum wirken die zum stillen Betrachten einladenden monochromen Arbeiten Michael Morgners, als gehörten sie zum ständigen Inventar. Durch ihre Dichte und Mehrschichtigkeit schlagen seine Malerei und Grafik eine Brücke zur Bildhauerei, vor allem zum Relief, und diese wiederum kann mit dem Lineament der Zeichnungen in Beziehung gesetzt werden. Bei dem in Einsiedel bei Chemnitz lebenden Künstler (Jahrgang 1942) ist der Zeichen- und Malakt ein Rede- und Antwortspiel, mit dem Zwang zur Verknappung und Reduktion: Kein Fabulieren, kein Dekor, keine Arabesken, nichts Überflüssiges. Alles ist präzise, ohne systematisch zu sein: klar, kurz, zeichenhaft, flächig und zugleich in schwingender Bewegung. Chiffren wie das Kreuz, Symbol für Tod und Auferstehung, Pluszeichen, Dreiecke, Balken, Pfeile und Schlüssel, Hieroglyphen in einem zeichenhaften Raum, können als Wegweiser aus einer kodierten Welt albtraumhafter Gewalttätigkeiten verstanden werden.

Das große Thema Morgners, Ecce Homo, die menschliche Existenz in der Polarität von Leben und Tod, das Ausgeliefertsein des Einzelnen an diffuse Mächte, die Grundsituationen menschlicher Existenz also, aber auch die Geschlechterbeziehungen, verlangt ungewöhnliche bildnerische Erfindungen und wird zugleich in unendlichen Variationen immer wieder von Neuem angegangen. Morgner überträgt sie vom Papier auf großformatige Leinwände, die er in einer eigenen Lavage-Technik überarbeitet: Tusche wird mehrfach ausgewaschen, der Bildgrund dadurch aufgerieben und das Schwarz von unterschiedlichen Grauwerten überlagert. Holzschnittartige Körpergesten, in starre Hülsen gepresste, von bedrohlichen Aquatinta-Schwärzen eingeschlossene Figuren, Hockende, Gebeugte, Stürzende, gekrümmte »Angst-Figuren«, aber auch solche, die sich im »aufrechten Gang« üben.

Der Radierzyklus »Narben« (2004), der der Ausstellung in der St. Matthäus-Kirche im Berliner Kulturforum den Titel gibt, besteht aus 14 Radierungen und einem Foto, welches der Künstler an den Anfang stellt: ein Körperausschnitt – ein wie von Brandspuren gezeichneter Rücken – der Holzskulptur des »Christus in der Rast«, die der Bildschnitzer Peter Breuer um 1500 geschaffen hat. Sie befindet sich im Stadt- und Bergbaumuseum Freiberg, und Morgner hat immer wieder vor ihr gestanden und sie intensiv betrachtet. Die Epidermis ist zerschunden, zerschrundet, zerfurcht, quälend unerlöst – alles Leid der Welt scheint sich hier komprimiert zu haben. Gleichzeitigkeit und Dauer sind zu einer Einheit verschmolzen.

Die Folge beginnt und endet mit einem Kreuz und schließt Torsi, Paare – sollten es Adam und Eva sein, so wissen sie, warum das Paradies hinter ihnen liegt – und einen Sitzenden ein, der Breuerschen Christusfigur verwandt. Es sind Gestalten, die seismografisch aus inneren Erschütterungen entstehen – unsichere, keineswegs unentschiedene Erscheinungen ohne anatomische Prägnanz und physiognomische Deutlichkeit. Während das »Spiegelbild« einer Figur, eine sich in vielen Facetten brechende Negativform einer Erscheinung noch Netzhautbild, Reflexion und Bildform in Einklang bringen, zeigen die Figuren Morgners einen emotionalen, weniger am Erscheinungsbild als an einer vielschichtigen Erlebnissituation orientierten Ansatz. Hier begegnen uns keine Symbol- oder Allegoriefiguren in metaphysisch-mystischen Inszenierungen, sondern Vorstellungsbilder, die im differenzierten Prozess des Radierens (Kaltnadel, Aquatinta, Aussprengtechnik, Prägedruck und zudem ergänzende Farbplatten einbeziehend), analog zu einem Entwicklungsbad in der Dunkelkammer, auftauchen, Schicht um Schicht weiterentwickelt und schließlich fixiert werden. Die Aufschichtung der Farbe ist die Bedingung für das Erscheinen der Figur – auch der Figur in der Figur,des Körpers im Körper. Helle, lichte Partien wechseln mit satten, dunklen. Der monochrome Bildgrund bedeutet für die – oft mit Kreuzen hinterlegten – Figuren Aktions- und Leidensraum zugleich. »Handeln ist Leiden und Leiden ist Handeln, dennoch handelt der Leidende nicht, noch leidet der Handelnde…«, heißt es bei T.S. Eliot, einem der bedeutendsten Autoren der literarischen Moderne. Die aus diffusen Imaginationen, Gefühlsströmen, Träumen, Ahnungen und allen Aktualitäten gelösten und zu Bilderscheinungen ausgeformten Figuren suggerieren, obgleich im Bildraum eingeschlossen, erstarrt, isoliert, mitunter eine aggressive Vehemenz des Handelns. Aber Aggression und Defension, Verschlingen und Selbst-Verschlungen-Werden, Bewegung und Erstarrung halten sich die Waage. Handeln und Leiden sind in einem für uns gedanklich schwer fassbaren, aber visuell evidenten Sinnzusammenhang als Einheit zusammengeschlossen. Das ganze Formenrepertoire der vom Künstler jahrzehntelang verwendeten Zeichen und Symbole scheint hier zusammengefasst worden sein.

Ergänzt wird dieser erregende Zyklus durch das Bild »Kreuzigung« (1996, Collage/Decollage auf Leinwand) im Altarraum, das an den schrecklichen Terrorakt erinnernde Passionsbild »11.09.2002«, das Triptychon »Reliquie Mensch« (1993) und die Bronzeplastik »Ecce Homo«, die eigentlich an ihren Standorten in der Kirche verbleiben sollten, so sehr markieren sie den Raum und fügen sich zugleich in ihn ein. Während er in der Malerei doch mehr flächig erscheint und gerade die Aperspektivik die Flächigkeit noch unterstreicht, bricht Morgner in der Skulptur die Form auf, schafft er Räume im Raum, Figuren in der Figur. Ob er nun die Positivform aus der Negativform löst, gleichsam »aufklappt«, oder die auf ihr grafisches Körpergerüst reduzierte Figur als Binnenform in die Rahmenform einschließt und dadurch transparent macht, oder die Figur reliefartig der Skulptur »vorsetzt«, immer verdrängt oder belastet der Raum die Form, sucht sich die gestaltgewordene Form mühsam gegen den Raum durchzusetzen.

Morgners Arbeiten sind leidenschaftliche Selbstbehauptungen, in Szene gesetzt mit der ganzen Kraft der Person. Seine Arbeiten, wenn man sich ihnen aufmerksam zuwendet, können wohl niemanden unbeteiligt lassen. Sie zielen aufs affektive Zentrum, und sie treffen …

Michael Morgner »Narben« – Grafik, Malerei, Skulptur. St. Matthäus-Kirche im Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin, Di-So 12-18 Uhr, bis 28. Oktober.

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