Ukraine: Nachfrageboom bei Krediten

Der Wiederaufbau des Landes hat mitten im Krieg begonnen – mit deutscher Beteiligung

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 3 Min.

Diese Antwort überrascht. Als Gerhard Boesch, Vorstandsvorsitzender der Privat-Bank, kürzlich in einem Interview gefragt wurde, wie das größte Kreditinstitut in der Ukraine nach zwei Jahren Krieg dastehe, antwortete er: »Flapsig gesagt: besser denn je.« Die Bilanzsumme sei um 70 Prozent gewachsen auf umgerechnet 16,4 Milliarden Euro, vor allem dank der großen Nachfrage von Privatkunden nach Konsumenten-, Hypotheken- und Autokrediten.

Die Zahlen der Privat-Bank, seit 2016 in Staatsbesitz, spiegeln die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wider. Im ersten Kriegsjahr 2022 brach das Bruttoinlandsprodukt um 29,1 Prozent ein, doch im vergangenen Jahr ist die Volkswirtschaft wieder gewachsen. Für 2024 erwarten Analysten ein Plus von gut drei Prozent. 

Gleichzeitig sind die Kriegsschäden beträchtlich. Laut Schätzungen des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft könnte der Kapitalstock der Ukraine etwa aus Gebäuden oder Straßen bis 2026 um fast eine Billion Dollar fallen. Ähnlich wie in Russland profitieren indes Teile der Wirtschaft von der Kriegskonjunktur. Waffen, Ausrüstung und Lebensmittel für die Armee werden mehr denn je produziert. Zur Trendwende trugen auch die Geflüchteten bei. Von den rund 40 Millionen Ukrainern leben heute nach Angaben der Statistikamtes Eurostat allein 4,3 Millionen in EU-Staaten. Geldtransfers der Migranten nehmen in der ukrainischen Wirtschaft genauso eine Schlüsselrolle ein wie Exporte von Erzen, Metallwaren und Agrargütern. Beides trägt zu der für die Regierung Wolodymyr Selenskys existenziell wichtigen Beschaffung von Devisen bei.

Bei Ölfrüchten und Getreide ist die Ukraine sogar ein wichtiger globaler Spieler. Auf die Blockade der Schwarzmeerhäfen durch Russland reagierte Kiew mit einer Umleitung der Exporte über rumänische Donauhäfen sowie die Landesgrenzen nach Polen und Tschechien. Doch Lastwagenfahrer und Landwirte protestieren dort seit Monaten gegen die billige Konkurrenz. In dieser Woche wurde der Güterverkehr aus der Ukraine fast vollständig zum Erliegen gebracht. 

»Die Ukraine steht vor großen Herausforderungen«, heißt es bei der deutschen Außenhandelsorganisation GTAI: Armut, demografische Entwicklung und ein riesiger Modernisierungsbedarf. Als Kernprobleme gelten nach 30 Jahren Unabhängigkeit immer noch Mängel in der öffentlichen Verwaltung sowie zu geringe Investitionen der Unternehmen. Hinzu komme ein hohes Maß »oligarchischer Kontrolle« in Schlüsselindustrien, kritisiert die bundeseigene Marketing-Agentur. Oligarchen nähmen zudem großen Einfluss auf die Politik. Durch Korruption und Schattenwirtschaft gingen dem Fiskus nach wie vor beträchtliche Einnahmen verloren, zumal notwendige Reformen nur unzureichend umgesetzt worden seien. Aber es gebe auch Lichtblicke: Die Ukraine habe eine lebendige Zivilgesellschaft, der IT-Sektor boomt, die Start-up-Szene blüht, neue Unternehmen florieren. Bei der Versorgung der EU mit grüner Energie könnte die Ukraine zukünftig eine Schlüsselrolle einnehmen.

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Der Wiederaufbau hat allen Widrigkeiten zum Trotz begonnen. Zahlreiche internationale Geber stellen Finanzmittel zur Verfügung, die vor allem der Aufrechterhaltung der Grundversorgung dienen und in Gesundheit, Energieversorgung oder Wohnungsbau fließen. Zu den großen Gebern gehören die Europäische Investitionsbank, der Internationale Währungsfonds und die deutsche Staatsbank KfW. 

Beim Wiederaufbau unterstützt der deutsche Staat auch die Privatwirtschaft, mit Absicherung von Exporten, günstigen Finanzierungsangeboten für Investitionen vor Ort und einer Plattform zur Vernetzung aller Akteure. Vor Kriegsausbruch waren laut GTAI rund 2000 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung im Land aktiv. Nur wenige hätten ihr Ukraine-Geschäft komplett eingestellt.

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