Bundestag über Bürgerrat: Missverständnisse und Populismus

Die erste Bundestagsdebatte über die Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung wird zum hitzigen Schlagabtausch. Kritik kommt aus der Mitte und von rechts

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.

In der ersten und einzigen öffentlichen Bundestagsdiskussion über die Empfehlungen des Bürgerrates Ernährung traten diese zum Teil beinahe in den Hintergrund. Etliche Abgeordnete rollten lieber die alte Grundsatzdebatte neu auf: Ist das Instrument Bürgerrat, dessen 160 Mitglieder nach einer komplexen mehrstufigen Zufallsauswahl so ausgelost wurden, dass sie repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung sind, eine sinnvolle Ergänzung der parlamentarischen Demokratie? Die Vertreter*innen von CDU/CSU und AfD sind sich einig, dass dem nicht so ist. Selbst in der FDP, die den Bürgerrat als Teil der Regierungskoalition mit durchgesetzt hat, scheint man von dieser Entscheidung nun Abstand zu nehmen.

So schimpfte CDU-Politiker Philipp Amthor in der Plenumssitzung am Donnerstagmorgen über »Entparlamentarisierung« und eine Schwächung des Bundestags. »Unsere Demokratie zeichnet sich aus durch Wahlen und Abstimmung und nicht durch Auslosung.« Gero Clemens Hocker von der FDP erklärte, dass die Einsetzung des Bürgerrats »für uns ein Kompromiss gewesen« sei. Und auch sein Parteikollege Ingo Bodtke ist der Meinung, der Bundestag brauche »keine Parallelstrukturen, die den hochkomplexen Sachverhalten nicht Rechnung tragen können«. Obwohl Wissenschaftler*innen wie die Sozioökonomin Melanie Speck bereits erklärt hatten, dass die Empfehlungen des Bürgerrates »einen wissenschaftlichen Konsens widerspiegeln«, meinte Bodtke zu wissen, dass sie zum Großteil nicht umsetzbar seien.

Mit reinem Populismus lenkte der AfD-Abgeordnete Stephan Protschka vom Thema ab. Mit der Parole »Alle Macht den Räten!« versuchte er das demokratische Instrument Bürgerrat in eine Linie mit dem Rätekommunismus zu stellen, bevor er dessen Moderator*innen als grüne Manipulator*innen darstellte und die Currywurst in der VW-Kantine als »Ernährungsfreiheit« feierte. Verteidigt wurde das Gremium vor allem von SPD und Grünen. Marianne Schieder (SPD) erinnerte daran, dass das Parlament »der Ort der Entscheidungsfindung bleibt. Daran ändert sich durch die Einsetzung eines Bürgerrates nichts«. Und Renate Künast (Grüne) daran, dass laut Grundgesetz »alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht«. Der Bürgerrat »eignet sich nicht für Ideologiedebatten«. Sie sei dafür, die meisten Empfehlungen »ernsthaft umzusetzen«.

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Eigentlich sollten die Abgeordneten zu den neun Empfehlungen, die der Bürgerrat, beraten von zahlreichen Expert*innen, über Monate hinweg erarbeitet hatte, ganz konkret Stellung beziehen. Schon vorab hatten 28 Organisationen wie die Deutsche Umwelthilfe, Klimamitbestimmung und verschiedene Ernährungsräte in einem offenen Brief gefordert, dass »alle Fraktionen eine Unterstützung und Ablehnung jeder einzelnen Empfehlung öffentlich und nachvollziehbar begründen« sollten. Tatsächlich wurden einige Empfehlungen wie die Altersgrenze für Energydrinks oder bessere Lebensmittelkontrollen am Donnerstag im Bundestag jedoch überhaupt nicht thematisiert.

Die meisten Parlamentarier*innen stürzten sich lediglich auf die erste Empfehlung eines kostenfreien Mittagessens für alle Kinder in Schulen und Kitas. Deren Umsetzung würde wahlweise bedeuten, dass die Kommunen finanziell zu stark belastet würden, so Petra Nicolaisen (CDU), oder dass kinderlose Familien über ihre Steuern fremde Kinder finanzieren, wie Hocker kritisierte. Matthias Miersch (SPD) erwiderte, als kinderloser Mensch hätte er damit kein Problem. »Das kostenlose Essen in Bildungseinrichtungen ist ein Punkt, der mit elementarer Gerechtigkeit zu tun hat.«

Bodtke zeigte auf das Land Berlin, in dem das kostenlose Mittagessen bereits eingeführt wurde, aber nicht wertgeschätzt werde, wie er behauptete. Viele Kinder nähmen nicht am Essen teil und die Caterer müssten es auf eigene Kosten entsorgen. Peggy Schierenbeck (SPD) verwies darauf, dass der Bürgerrat in seinem Gutachten auch Lösungen für Lebensmittelverschwendung vorgeschlagen habe und dass Schweden bereits vormache, wie es funktionieren kann. In Anbetracht der Debatte hätten die Bürgerratsmitglieder »nicht zu unrecht ein wenig Zweifel daran«, ob sie von der Politik ernst genommen werden, kritisierte Isabel Mackensen-Geis (SPD).

Gökay Akbulut von der Gruppe der Linken hätte sich insgesamt noch »deutlich radikalere Empfehlungen gewünscht«, schließt sich der nach einem kostenlosen Schul- und Kita-Essen jedoch an. Ebenso Amira Mohamed Ali von der Gruppe BSW, die darauf verweist, wie schwer es für Armutsbetroffene sei, sich vollwertig zu ernähren.

Einige Abgeordnete thematisierten die Empfehlung einer Verbrauchsabgabe auf tierische Produkte, die laut dem AfD-Politiker Peter Felser zur Folge hätte, dass Fleisch ein Luxusgut werde und es eine Zwei-Klassen-Ernährung gäbe. Auch hier hätte ein Blick in das Gutachten gezeigt, dass der Vorschlag anders zu verstehen ist, wie Miersch richtig stellte: Es gehe darum, »wie wir die Bäuerinnen und Bauern unterstützen, die in Richtung Tierwohl nach vorne gehen«. Zoe Mayer von der Grünen-Fraktion lobte die Empfehlung eines neuen Steuerkurses für Lebensmittel und erinnerte daran, dass die aktuelle Mehrwertsteuer die Ernährung vieler Verbraucher*innen bereits stark beeinflusse: Pflanzliche Ernährung werde benachteiligt, die ungesündesten Alternativen seien oft die günstigsten. »Kaum ein Thema ist so anfällig für Populismus und wird so oft als Kulturkampf stilisiert. Dabei ist gesunde Ernährung ein elementarer Bestandteil unserer Gesundheit«, so Mayer.

Abschließend wies Nadine Heselhaus (SPD), die sich mit einigen Teilnehmer*innen austauschen konnte, noch einmal darauf hin, dass sämtliche Kritikpunkte der Abgeordneten vom Bürgerrat bereits berücksichtigt wurden und dieser sich dennoch bewusst für seine Empfehlungen entschieden habe. Sie appellierte an ihre Kolleg*innen, Geld für die Umsetzung in die Hand zu nehmen. »Das wäre ein Meilenstein.« Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) überwies das Gutachten schließlich an die zuständigen Ausschüsse, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen.

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