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»The Gentlemen«: Koksnasen im Hühnerkostüm

Guy Ritchies Serie »The Gentlemen« ist ein herrliches Gemetzel im Drogenmilieu mit viel blauem Blut

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Dass britische Adlige ihr Land an einen Drogenboss verpachten, ist in »The Gentlemen« normal.
Dass britische Adlige ihr Land an einen Drogenboss verpachten, ist in »The Gentlemen« normal.

Primogenitur ist ein Gesetz der feudalen Erbfolge, das mit Normalsterblichen weniger zu tun hat als eine Cannabis-Plantage mit dem Buckingham Palast. Der Erstgeborene kriegt von allem das meiste, der Nachgeborene kriegt vom meisten die Reste: So geht es auch in der Hochadelssippe von Eddie Horniman zu. Seit ein Urahn vor fast 500 Jahren Herzog wurde, übergibt man Titel von Generation zu Generation an den ältesten Sohn. Bis heute.

Zu Beginn der Netflix-Serie »The Gentlemen« verliest ein Notar das Testament des zwölften Duke of Halstead. Entgegen der Primogenitur jedoch erklärt es nicht den Stammhalter Freddy (Daniel Ings) zum Nachfolger, sondern sein Brüderchen Eddie (Theo James). Warum, wird in zwei Szenen ringsum deutlich: Während letzterer zuvor als Blauhelmsoldat am Rande Osteuropas für Ruhe sorgt, rastet ersterer nach der Zeremonie völlig aus.

Kein Wunder: Dank seiner Kokssucht ist Freddy bei einem Liverpooler Gangsterclan mit acht Millionen Pfund verschuldet, die er aus seinem Erbe begleichen wollte. Mithilfe der dubiosen Susie (Kaya Scodelario) kann Eddie die Summe zwar halbieren – allerdings um den Preis, dass Freddy im Hühnerkostüm Abbitte vorm Drogenboss Dixon (Peter Serafinowicz) leisten muss. Es ist der Beginn einer Eskalationsspirale, die in der 15. Minute Fahrt aufnimmt und bis zur 480. nie mehr den Fuß vom Gaspedal nimmt.

Wie üblich eben bei Guy Ritchie, dessen Achtteiler am gleichnamigen, ebenso von ihm gedrehten Film von 2019 andockt, aber den Fokus verschiebt. Waren auf der Leinwand Großkriminelle handlungsrelevanter, sind es am Bildschirm Hochadlige. Weil die selbst in der britischen Standesgesellschaft ihre besten Tage hinter sich haben, tut Eddies Vater nämlich das, womit in Ritchies Welt fast jeder der 28 Herzöge im Königreich ihren Lebensstandard halten: Er verpachtet Land an Susies Geschäftspartner, der dort eine Cannabis-Farm vom Umfang des Buckingham-Palastes betreibt. Dem 13. Duke of Halstead bringt das zwar Einkünfte, aber auch Ärger ein, weshalb Eddie sie im Lauf der Serie loswerden will und dabei in bandenkriminelle Machenschaften gerät. Wie üblich geht es bei Guy Ritchie also um Drogendealer, die Hahnenkämpfe ausfechten, in denen der stilsichere Sadomasochist seine Ästhetik des Tötens mit einer Heiterkeit zelebriert wie sonst nur Quentin Tarantino.

Das muss man nicht lieben, man darf es gar hassen. Was man allerdings nie tun sollte: Guy Ritchies Lust am Gemetzel, die blutrünstige Mischung aus Aberwitz und Originalität, gepaart mit dem aktuell vielleicht besten Timing für aufgestaute Erwartungshaltungen mit billigem Voyeurismus für testosterongesättigte Actiongelüste à la »The Fast and the Furious« verwechseln.

Seit seinem Durchbruch mit »Bube, Dame, König, Gras«, gefolgt vom ebenso rauschhaften Diamantenraubzug »Snatch«, wird der gelernte Musikvideo-Regisseur auch hier wieder zum Jäger und Sammler skurriler Typen, die er in Kammerspielen der niederen Instinkte verschleißt wie Kriegsfilme Infanteristen. Wobei Ritchies popkultureller Eklektizismus Charakteren wesensverwandter Filme und Serien vorm Sterben gern neues Leben einhaucht.

Ein distinguierter Drogenbaron zum Beispiel, der unbedingt Eddies Landsitz Halstead Manor kaufen will, wird bewusst von Giancarlo Esposito gespielt, den Walter White bereits in »Breaking Bad« mit Crystal Meth versorgte. Die snobistische Koksnase Freddy hingegen hat sich Ritchie bei Benedict Cumberbatchs »Patrick Melrose« geborgt. Der unbeirrbare Tatortreiniger Felix stammt in direkter Linie von Harvey Keitels Problemlöser Wolf in »Pulp Fiction« ab, wo sich der predigende Bandenboss Gospel (Pearce Quigley) von Samuel L. Jacksons bibelfestem Killer Jules inspirieren ließ.

Sie alle tragen über acht kurzweilige Stunden hinweg einen Überbietungswettbewerb der Niedertracht aus, in dem selbst der aufrechte Eddie mitmischt – auch und gerade, weil er sich nun mit »Your Grace« anreden lässt. Theo James spielt diesen Wandel vom Friedens- zum Todesengel, der nie haspelt, zögert oder schwitzt, zwar ein bisschen zu reibungslos, aber gut – Ritchie macht ja auch keine Reportagen, sondern Unterweltstudien, in denen garantiert keine Dartscheibe zufällig am Rand einer Prügelei herumhängt.

Die ebenso schöne wie skrupellose Susie konstatiert: »Töten ist Chaos und schlecht fürs Geschäft«, aber »wer das Töten beginnt, muss das Töten beenden«. Es beginnt im ersten Teil von »The Gentlemen« und endet womöglich noch längst nicht im achten. Fortsetzung dringend erwünscht.

Alle acht Folgen von »The Gentlemen« sind bei Netflix verfügbar.

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