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Berliner Kindheit: Gesichter der Stadt

Olga Hohmann wächst in Berlin am Mauerstreifen auf, die Gebäude der Stadt prägen ihre Erinnerungen

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Radfahrenlernen in Kreuzberg mit Blick auf die Mauer. Olga Hohmann hatte schon den freien Blick, wackelte im Wind und fuhr irgendwann endlich geradeaus.
Radfahrenlernen in Kreuzberg mit Blick auf die Mauer. Olga Hohmann hatte schon den freien Blick, wackelte im Wind und fuhr irgendwann endlich geradeaus.

Wer John Hejduks »Kreuzberg Tower« das erste Mal sieht und dabei nicht weiß, dass es sich um eine architekturhistorische Stätte handelt, wundert sich. Mimikryartig fügt sich der aus drei Gebäuden bestehende Komplex in seine Umgebung ein – die Peripherie um den ehemaligen Mauerstreifen in Berlin-Mitte. Die Farbgebung ist grünlich-grau, ein bisschen so wie der Berliner Himmel, ein bisschen so wie die Mauer, die nicht mehr steht, ein bisschen so wie die Wohn- und Industrieblocks, von denen sie umgeben sind. Trotz der auf den ersten Blick profanen Anmutung der Hejduk-Häuser gibt es ein animistisches Moment in ihnen: Man schaut die Gebäude an, und plötzlich schauen sie zurück, blinzeln einem zu und strecken einem verschmitzt die Zunge heraus.

Als meine Mutter 1984 nach Berlin zog, gab man ihr einen »Berliner Schlüssel« in die Hand und ließ sie selbstständig diverse Wohnungen in Schöneberg und Kreuzberg anschauen. Sie konnte sich, es scheint heute wie eine Utopie, einfach eine aussuchen. Zentralheizung und Badezimmer gab es nicht. Vor dem Haus, für das sie sich entschied, spielten Kinder auf der Straße. Die Mauer war so nah, dass es fast keinen Verkehr gab. Fast alle Straßen waren hier Sackgassen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.

dasnd.de/hohmann

Meine Mutter sagt: »Duschen war ich früher immer in der Hochschule (die damals noch HdK hieß) oder im Spreewaldbad.« Ich selbst lernte im Spreewaldbad schwimmen – oder versuche es zumindest. Ich fiel mehrmals durch die Seepferdchenprüfung. Die anderen Kinder spielten wochenlang mit den kleinen transparent-blauen Plastikmuscheln, die sie sich bei der (bestandenen) Prüfung ertaucht hatten. Ich durfte nicht mitspielen, denn ich hatte keine Muschel vom Grund des Wellenbeckens fischen können. Noch immer werde ich wütend, wenn ich an die kleinen Angeber denke, mit ihren kleinen Muscheln.

Fahrradfahren lernte ich auf dem ehemaligen Mauersteifen. Ich wackelte im Wind. Viele, viele Tränen wurden vergossen, bevor ich, es schien und scheint mir nach wie vor wie ein Wunder, plötzlich geradeaus fuhr, in Richtung Engelbecken, in dem Schildkröten wohnten und direkt daneben meine meistgefürchtete Kindergärtnerin.

Der Berliner Schlüssel ist ein, wie man sagt, doppelbärtiger Schlüssel. Bruno Latour hat ihm einen ganzen Essay gewidmet. Er schreibt: »Hier haben wir einen Gegenstand, der das Herz eines Technologen höher schlagen lässt, während er für einen Archäologen einen Alptraum darstellt. (…) Was für ein seltsames Ding ist das? Wozu soll das gut sein? Warum ein Schlüssel mit zwei Schlüsselbärten? Und zwei symmetrischen obendrein? Über wen will man sich hier lustig machen?«

Wenn der Schlüssel Zwischenglied ist, macht er nichts, außer den Sinn des Satzes »Schließen Sie die Tür nachts immer hinter sich zu, tagsüber jedoch nie« zu tragen oder zu transportieren, zu verlagern, zu verkörpern, auszudrücken, zu verdinglichen, zu objektivieren, widerzuspiegeln. In einer politischeren Variante: »Regeln wir den Klassenkampf zwischen Hauseigentümern und Mietern, Besitzenden und Dieben, rechten Berlinern und linken Berlinern.«

Verdinglichung – wenn ich den Begriff höre, denke ich immer an das Marx-Seminar an der FU, an der mein Vater in den 80er Jahren studiert hat. Ich denke an das Architektenpaar »Baller«, die so viele, unverkennbare, Häuser im Westteil der Stadt gebaut haben, zum Beispiel jene Philosophiefakultät in Dahlem, in der das Marx-Seminar stattfand. In einem Baller-Haus, das am Fraenkelufer steht, wohnte eine meiner liebsten Kindergarten-Freundinnen. Leider hatte sie noch eine andere, bessere beste Freundin.

Mein Kindergarten war ein umfunktioniertes Parkhaus; wir bretterten, so schnell wir konnten, mit unseren kleinen roten Bobbycars die Rampen herunter, die eigentlich für echte Autos gedacht waren.

Ich erinnere mich an meinen Kiez als Provinz. Allein loslaufen, um schaukeln zu gehen oder Mini Milk beim Späti zu holen. Auf dem Rückweg riefen einem manchmal fremde Menschen Dinge zu, von denen man erkannte, dass sie in die Kategorie »Verrückt, aber ungefährlich« gehörten. »Ich bin dein Papa!«, schrie ein Rotgesichtiger, und ich rannte, so schnell ich konnte, nach Hause.

Ich spazierte allein zu diesem Kindergarten, der eigentlich ein Parkhaus war. Mein Vater hatte dem Bäcker Ismael auf der anderen Straßenseite ein Zeichen gegeben, mich beim Über-die-Straße-Gehen zu beobachten.

Die Stadt hat viele Gesichter, damals wie heute. Manche schauen einen buchstäblich an, so wie das von Hejduk, unweit des ehemaligen Mauerstreifens. Ob es sich für Kinder noch immer so behütet anfühlt wie damals, weiß ich nicht. Aber: Das Make-up steht der Stadt nicht. Und die Unbezahlbarkeit erst recht nicht.

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