Urlaubsreisen nur für Reiche

Olivier David über räumliche und soziale Mobilität

Sonnenuntergang am Strand von Bandos, einer privaten Insel nahe Male, dem Zentrum der Malediven. Für arme Menschen ein unerreichter Urlaubsort.
Sonnenuntergang am Strand von Bandos, einer privaten Insel nahe Male, dem Zentrum der Malediven. Für arme Menschen ein unerreichter Urlaubsort.

Der vergangene Monat hat mich an Grenzen gebracht. Nicht nur an meine Kapazitätsgrenzen, sondern auch an Länder- und Bundesländergrenzen: Ich war sowohl bei meinem Vater in der französischen Kleinstadt Chinon zu Besuch als auch in Paris. Ich habe verschiedene Bundesländer bereist, zunächst Berlin und Hamburg. Außerdem war ich war für Lesungen, Vorträge und Workshops in Thüringen, Niedersachsen und Hessen. Und ich war in Sachsen.

Wer bis hierhin noch nicht eingeschlafen ist, kann feststellen, dass ich einen Fall sozialer Mobilität schildere. Soziale Mobilität im doppelten Sinne: Ich lebe davon, Orte zu bereisen und über meine Arbeit zu sprechen. Und im wörtlichen Sinn: Im vergangenen Monat habe ich mehr Orte bereist als in den ersten 16 Jahren meines Lebens.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Das erste Mal bin ich mit 17 Jahren geflogen. Da haben viele meiner Mitschüler*innen – ich bin auf eine Privatschule gegangen – bereits die halbe Welt bereist. Demgegenüber steht mein soziales Umfeld: Vor ein paar Jahren ist meine Mutter mit Anfang 60 das erste Mal in ein Flugzeug gestiegen. Meine Tante ist noch nie geflogen. Überhaupt war sie ein einziges Mal im Ausland – mit 15 Jahren auf Kirchenfreizeit in London.

Das Phänomen dahinter lautet Mobilitätsarmut. In Deutschland haben viele Leute, vor allem aus der Armutsklasse, aber auch genügend Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, nicht genügend Geld zur Verfügung, ihre eigene Stadt zu erkunden, geschweige denn das Land oder unseren Kontinent zu bereisen.

Das führt zu dem vielfach untersuchten Phänomen des Selbstausschlusses. Ich kann nicht in den Urlaub fahren, also will ich es auch nicht. Es gibt gleich mehrere Fälle in meinem Umfeld, wo Menschen von sich sagen, dass sie gar nicht das Ziel haben, selbst innerhalb Deutschlands zu verreisen. Nicht immer ist Geld das Problem. Viele Arme fürchten sich davor, »draußen« auf eine Welt zu stoßen, die so gar nichts mit der eigenen Realität zu tun hat – was zum Beispiel Sprache, Kultur oder Milieu angeht.

Auch im Alltag haben viele Menschen kaum die Möglichkeit, überhaupt verschiedene Orte in der Heimatstadt zu besuchen. Oder vom Land in die Stadt zu fahren. Das eine hat mit viel zu hohen Ticketpreisen zu tun, das andere mit einem totgesparten Öffentlichen Personennahverkehr. Das Ergebnis ist dasselbe. Die Segregation verhindert Mobilität, auch soziale Mobilität. Sozialer Aufstieg wird durch Mobilitätsarmut erschwert.

Während Armutsbetroffene weniger am Verkehr teilhaben und demnach auch weniger die Umwelt belasten, leiden sie häufiger unter den Auswirkungen der hohen Mobilität anderer Menschen. So schreibt das Umweltbundesamt, dass sich arme Menschen häufiger »durch Verkehrslärm belästigt fühlen und von verkehrsbedingter Umweltverschmutzung betroffen sind«. Die einen fahren mit ihren Autos, die anderen schauen ihnen dabei zu – und sterben aufgrund der hohen Umweltbelastung früher.

Die Lösungen dafür sind komplex. Ein paar leicht umsetzbare Maßnahmen wie das 9-Euro-Ticket, kostenloser Nahverkehr und Urlaubsgutscheine für Armutsbetroffene würden dem Problem der Mobilitätsarmut kurzfristig Abhilfe leisten.

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