Jenseits vom Bohei am ersten Mai

In der Paketbranche haben Gewerkschaften einen schweren Stand, Beschäftigte kämpfen mit eigenen Mitteln

  • Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 4 Min.

Für die rund 90 000 Arbeiter*innen in der Kurier-, Express- und Paketbranche sind die Arbeitsbedingungen oft hart, insbesondere auf der sogenannten letzten Meile der Zustellung. Die gilt als besonders kostenintensiv und schlecht bezahlt. Dort arbeiten überwiegend migrantische Beschäftigte, die extremer Ausbeutung ausgesetzt sind.

Dass diese Probleme in der Branche struktureller Natur sind, zeigt eine aktuelle Studie der ehemaligen nd-Redakteurin Nelli Tügel und von Jan Ole Arps, die im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst wurde. Demnach sind weite Teile der Branche von »Hire- and Fire-Praktiken« und von einer enormen Arbeitsbelastung geprägt. Überlange Arbeitstage, nicht bezahlte Überstunden sowie Lohn- und Sozialabgabenbetrug seien keine Ausnahme. Teils würden Löhne über Monate nicht ausgezahlt, die durch informelle Abzüge oft den gesetzlichen Mindestlohn unterschreiten.

Mitursächlich dafür sei unter anderem das Geflecht von Subunternehmerketten. »Das führt nicht nur zu undurchsichtigen Strukturen, sondern auch zu systematischen Verstößen gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen«, mahnen die beiden an.

Auch für gewerkschaftliche Organisierung und kollektiven Widerstand in der Branche sind diese Ausgangsbedingungen äußerst ungünstig. Die großen Händler beauftragen mittels Werkverträgen kleine Unternehmen von weniger als 20, oft unter 10 Beschäftigten. Betriebsräte gibt es kaum, die Fluktuation ist enorm.

Besonders schwer sei es laut Tügel und Arps, mit den Fahrer*innen in Kontakt zu treten. Sie haben keine Treffpunkte, viele kommen aus Ost- und Mitteleuropa, werden teils aus Drittstaaten angeworben. Oft kennen sie ihre Rechte nicht und ihr Aufenthaltsstatus hängt meist an ihren Arbeitsverträgen, sodass es fast unmöglich ist, sich zu wehren.

Doch das hält sie nicht immer davon ab, berichten die Studienautor*innen aus ihren Gesprächen mit Gewerkschafter*innen und Beschäftigten. Sie organisieren spontane Proteste oder wilde Streiks. Selten finden die Kämpfe ihren Weg in die Öffentlichkeit und bislang konnten sie sich nicht verstetigen.

Um daran und an den Bedingungen grundlegend etwas zu ändern, bräuchte es auch ein Verbot von Subunternehmerketten und Werkverträgen, wie die Gewerkschaft Verdi fordert. Nur so ließe sich das strukturelle Problem in den Griff kriegen – wie in der Fleischindustrie, betonen die Studienautor*innen Tügel und Arps.

Das sozialdemokratisch geführte Bundesarbeitsministerium betont dagegen, dass die rechtlichen Hürden für ein solches Verbot hoch seien. Auf nd-Anfrage heißt es, dass es »nur unter engen Voraussetzungen zu rechtfertigen« sei. Auch, weil es um die unternehmerische Freiheit geht. Die Frage, ob sich ein solches Verbot rechtlich umzusetzen lässt, müsse branchenspezifisch beantwortet werden. Auch dahin gehend, ob das Problem strukturell sei.

Dass dem so ist, legt ein aktueller Bericht der Generalzolldirektion zu Verstößen in der Branche nahe, über den die Rheinische Post berichtete. Darin ist von weitreichenden Rechtsverstößen die Rede. Auf nd-Anfrage teilte das Arbeitsministerium jedoch mit, den Bericht nicht zu kennen. Auch weil die Behörde dem Finanzministerium unterstellt ist. Dort will man sich dazu nicht äußern.

Es hätten sich in der Branche Strukturen herausgebildet, »die dem Bereich der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind«, ist auch der Grüne-Bundestagsabgeordnete und Gewerkschafter Frank Bsirske überzeugt. »Ein Subunternehmerverbot oder die Begrenzung der Vergabe könnte die Probleme in der Branche weitgehend lösen«, teilt sein Büro auf nd-Anfrage mit.

Doch selbst wenn sich SPD und Grüne auf ein Verbot oder die Beschränkung von Subunternehmen einigten, die FDP würde blockieren. Aus dem Büro des wirtschaftspolitischen Sprechers der Fraktion, Reinhard Houben, heißt es: »Die Konkurrenten der Deutschen Post sind auf den Einsatz von Subunternehmen angewiesen.« Wichtiger wäre es, dass »die schwarzen Schafe wirksam aussortiert werden«.

Dass sich an den Arbeitsbedingungen in der Paketbranche grundlegend etwas ändert, ist also nicht absehbar. So lange dürften die wilden Streiks weitergehen. Vielleicht mit mehr Öffentlichkeit und Unterstützung der Gewerkschaften.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!