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Mode und Verzweiflung: Zeigt her eure Füße
An Socken und Strümpfen lässt sich ablesen, wie die Zivilisation hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Besonders bei Männern
Ein Besuch des Verfassers in einem Bekleidungsgeschäft läuft idealerweise wie folgt ab: Er entscheidet, welche Kleidungsstücke er sich kaufen möchte und wie sie auszusehen haben (am besten wie die ausgemusterten, die sie ersetzen sollen); er betritt den Laden, geht zielstrebig von einer für ihn infrage kommenden Abteilung zur nächsten, meidet etwaige Verkäufer im Dienstleistungswartestand, damit sie ihn nicht mit ihrem »Kann ich Ihnen helfen?« belästigen (wenn Verkäufer helfen sollen, meldet sich der Kunde, darum haben sie zur Verfügung zu stehen, aber nicht proaktiv Hilfe anzubieten); er sammelt, soweit vorhanden, die entsprechenden Stücke zusammen, probiert, wenn nötig, einige von ihnen an, geht mit dem Erwünschten zur Kasse, zahlt und verlässt das Geschäft. Wenn alles gut geht, dauert der ganze Vorgang nicht länger als eine halbe Stunde.
Trotzdem – oder vielleicht deshalb – treten manchmal Missgeschicke auf, die erst im Nachhinein bemerkt werden. So wurden jüngst statt der gewünschten zehn Paar überknöchellanger Socken versehentlich Sockettes gekauft, diese babyhaften Schmalspursocken, die wie Einlagen aussehen, die man beim Schuhe-Anprobieren im Geschäft benutzt, und die heutzutage fast jeder unter 60 freiwillig trägt. Natürlich hätte sich der Fehlkauf durch Aufmerksamkeit vermeiden lassen, aber anders als früher gibt es in Bekleidungsgeschäften heute ein Dutzend Socken-, Strumpf- und Unterwäsche-Ecken, die die Suche zeitraubend und lästig gestalten. Deshalb wurde die Ware nicht umgetauscht (lästig und zeitraubend), sondern sie wird benutzt, bis sie verschleißt.
Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.
Die modische Indifferenz, von der das geschilderte Kaufverhalten zeugt und die der Verfasser bei sich selber – anders als bei anderen – Bekleidungspragmatismus nennt, kommt am Umgang mit Socken und Strümpfen deutlich zum Vorschein. Grundsätzlich ist am in Erscheinung tretenden bekleideten Mann alles unterhalb der Knie nicht so wichtig. Schuhe fallen erst dann negativ auf, wenn sie fehlen, Strümpfe erst, wenn sie weiß sind, und ob Strümpfe und Schuhe zusammenpassen, fragen sich zumindest Männer bei Männern fast nie. Männer brauchen nur ein Paar Schuhe, heißt es in einer Episode der »Harald-Schmidt-Show«, in der ein Besuch im Bekleidungsgeschäft nachgespielt wird: Wenn es ausgelatscht ist, wird es durch das nächste ersetzt.
Zu welcher Gelegenheit welche Schuhe passen, ist trotz partieller modischer Aufpeppung des männlichen Sozialcharakters immer noch eine Frauenfrage; wenn Männer aus Anlass ihrer Promotion, Hochzeit oder Beförderung Turnschuhe zur Anzughose tragen, ist das kein Stilbruch, sondern punkig. Solche Selbstvernachlässigung kommt bei den Socken zu sich selbst: Wenn sie Löcher haben, gilt das im Unterschied zur löchrigen Hose nicht als cool, sondern als Normalzustand.
Wer als Mann Socken nur deshalb wegwirft, weil sie löcherig sind, ist entweder ein Pingel oder ein Verschwender. Auch werden die Socken nicht täglich gewechselt, da man, wenn man unter Leute geht, ja Schuhe trägt, die die Ausdünstung der Socken eindämmen.
Um die Strümpfe der Frauen entspinnt sich eine ganze Mythologie – sie können, besonders in der heute außerhalb von Hipster-Kreisen anachronistisch gewordenen Form des Kniestrumpfs, die Sinnlichkeit des Körperteils betonen, den sie bedecken. Männer, denen ihre Strümpfe mehr sind als Funktionskleidung, erscheinen dagegen als narzisstisch, transvestitisch oder umständlich.
Hannelore Schlaffer hat in ihrer 2007 erschienenen Studie »Mode, Schule der Frauen« die Gründe für die modische Erniedrigung der Männer untersucht. Die Züge, die die weibliche Mode gegenüber der Banalität männlicher Zivilkleidung auszeichnen, verdanken sich, so Schlaffer, der Transposition männlicher Gesinde- und Arbeitskleidung in die Zweckfreiheit des weiblichen Kleids: Westen, Röcke, Hüte, die in ihrer jeweiligen Epoche an den Frauen verwegen, exquisit oder erotisierend wirkten, waren zuvor Bestandteil männlicher Zweck- und Standardkleidung, etwa von Bediensteten, Soldaten oder Staatsbeamten.
Auch Kniestrümpfe, Strumpfhosen und Strumpfbänder gehörten zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert zur standesspezifischen Kleidung von Adligen, Offizieren und Dienstboten, bevor sie, ihres sozialdistinktiven Zwecks entbunden, autonomer Teil weiblicher Mode wurden. Dass solche Beinbekleidungsweisen heute zweckfrei und ohne Erinnerung an ihre Herkunft den Männern gleichsam zurückgegeben und ihnen kulturell zugänglich gemacht werden, ändert an dieser Depotenzierung nichts: Ein souveräner, spontaner, spielerisch-ernsthafter Umgang mit solchen Accessoires ist nur Frauen möglich, bei Männern kippt er fast zwangsläufig ins Unernste, Kasperlhafte.
»Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh’, und sehet den fleißigen Waschfrauen zu«, lautet der Refrain eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populären Kinderliedes, in dem Erfahrungen aus der soldatischen Lebenswelt mitschwingen, wo die jungen Männer jeden Morgen die ordnungsgemäße Gepflegtheit ihres Schuhwerks unter Beweis stellen mussten. Bereits dort geht es aber darum, dass die Männer, die aufgefordert werden, den Blick statt auf ihr Schuhwerk auf die Waschfrauen zu richten, wenn sie fesche Männer sein wollen, für die Funktionalität ihrer Schuhkleider Sorge tragen sollen, statt sich an deren Schönheit zu ergötzen. Etwas von diesem anempfohlenen Habitus schwingt noch heute in der Nachlässigkeit mit, mit der sie über die Bekleidung ihrer Füße hinwegsehen.
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