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Labours Wahlsieg: Eine politische Sandburg
In Großbritannien hat die Labour-Partei den größten Sieg seit Jahrzehnten eingefahren. Aber der Triumph steht auf wackligem Fundament
»Pack deine Koffer!«, rief jemand, als Rishi Sunak am frühen Freitagmorgen das Tory-Hauptquartier in London verließ. Möglicherweise hatte der Noch-Premier schon mit dem Packen angefangen – auf jeden Fall wusste er zu diesem Zeitpunkt bereits, dass das Spiel aus war. Wenige Stunden zuvor hatte er sich an die Öffentlichkeit gewandt und zugestanden: »Labour hat diese Parlamentswahl gewonnen.«
Und wie: Keir Starmers Opposition feiert einen Erdrutschsieg. Noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt, aber am Freitagmittag hatte Labour 412 von insgesamt 650 Sitzen gewonnen. Die Konservativen sind auf mickrige 121 Mandate geschrumpft, ein Rückgang von 250 Sitzen. Es ist die tiefste Niederlage in der Geschichte der Partei. Etliche große Tiere der Konservativen haben ihre Sitze verloren, darunter Jacob Rees-Mogg und – besonders schockierend für die Tories – Ex-Premierministerin Liz Truss.
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Sunak sprach am Freitagvormittag zum letzten Mal als Premierminister zur Nation. Die Wähler haben »ein klares Signal gesandt, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs wechseln muss«. Er entschuldigte sich bei seiner Partei für das Debakel. Während er sprach, stand seine Frau Akshata Murty im Hintergrund, in der Hand ein Regenschirm, für alle Fälle – Szenen wie vor sechs Wochen, als Sunak bei seiner Ankündigung von Neuwahlen vom Regen durchnässt wurde, wollte man offenbar vermeiden. Wenigstens der Abgang sollte würdevoll über die Bühne gehen.
Kurz darauf erhielt der neu gewählte Premierminister Starmer vom König den Segen für die Regierungsbildung. Im Anschluss warf er sich ins Bad in der jubelnden Menge, die sich in der Downing Street versammelt hatte. »Unser Land braucht einen grundlegenden Neustart«, sagte er in seiner ersten Rede als Regierungschef. Er versprach, das Land wieder aufzubauen. »Die Arbeit, diesen Wandel umzusetzen, beginnt jetzt.«
Der triumphale Auftritt ist nachvollziehbar. Aber die beeindruckenden Sitzgewinne Labours kaschieren ein komplexeres Ergebnis. Denn wenn man sich den Stimmenanteil anschaut, konnte Labour nur geringfügige Fortschritte machen. Man vergleiche: 2019, als Labour eine historische Niederlage einsteckte, gewann die Partei 32 Prozent der Stimmen; an diesem Donnerstag hat sie einen Stimmenanteil von 33,8 Prozent erzielt – was sich in einen riesigen Triumph übersetzt hat.
Möglich macht es das Mehrheitswahlsystem, bei dem leichte Verschiebungen im Wahlverhalten große Schwankungen in der Sitzverteilung bewirken. Es sei das »verzerrteste Wahlergebnis« in der britischen Geschichte, schreibt die »Financial Times«. Der Wahlexperte John Curtice meint: »Der Labour-Sieg verdankt sich in erster Linie der Tatsache, dass die Unterstützung für die Tories dramatisch eingebrochen ist.«
Augenfällig ist überdies, dass das Zweiparteiensystem zunehmend unter Druck gerät: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben Tories und Labour zusammengerechnet noch nie so wenige Stimmen erhalten wie an diesem Donnerstag. Demgegenüber haben Drittparteien glänzende Resultate erzielt. Die Liberaldemokraten gewannen mehr als 70 Sitze, so viele wie noch nie zuvor. Die Grünen konnten die Zahl ihrer Mandate von einem auf vier erhöhen. Und die Reform-Partei, die am extremen rechten Rand der Politik anzusiedeln ist, gewann mehr als 14 Prozent der Stimmen; vier Abgeordnete werden künftig im Unterhaus sitzen, darunter Nigel Farage selbst. Der Rechtspopulist auf der anderen Seite des Atlantiks hat seinem britischen Gesinnungsgenossen bereits gratuliert: »Nigel ist ein Mann, der sein Land wirklich liebt!«, schrieb Donald Trump am Freitag auf der Social-Media-Plattform Truth Social.
»Der Labour-Sieg verdankt sich in erster Linie der Tatsache, dass die Unterstützungfür die Tories dramatisch eingebrochen ist.«
John Curtice Politikwissenschaftler
Dass der Sieg der Labour-Partei nicht ganz so triumphierend ist, wie es die Sitzgewinne suggerieren, lässt sich auch in einzelnen Regionen sehen. Keir Starmer selbst büßte im Vergleich zu 2019 17 Prozent der Stimmen ein, zudem war die Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis miserabel – für einen angehenden Premierminister nicht gerade beeindruckend. Zudem verlor der Labour-Chef zwei führende Genossen, denen er eigentlich einen Posten im Schattenkabinett hatte geben wollen: Thangam Debbonaire verlor ihren Sitz in Bristol an die Grünen, Jonathan Ashworth unterlag gegen einen propalästinensischen Kandidaten. Ex-Parteichef Jeremy Corbyn gewann als Unabhängiger im ehemals sicheren Labour-Sitz Islington North.
Was bedeutet das alles? Erstens werden sich die Bruchstellen im Zweiparteiensystem vertiefen. An den Rändern, links wie auch rechts, sind Bewegungen auf dem Vormarsch, die den etablierten Parteien Konkurrenz machen. Und zweitens zeigt sich, dass der Sieg Labours auf einem wackligen Fundament steht. Wie der Politologe und Wahlexperte James Kanagasooriam schreibt: Der Labour-Sieg ähnelt einer »politischen Sandburg«. Es werde also nicht viel brauchen, um den Wahltriumph in sich zusammenbrechen zu lassen. Die Unterstützung für die Partei ist hauchdünn – und das könnte schon bald zu einem Problem werden.
Für den Moment jedoch zählt der Wahlsieg. Mit einer satten Mehrheit von 170 Sitzen hat Starmer freie Hand, das Land so zu steuern, wie ihm beliebt. In Bezug auf die EU und das Verhältnis zu den europäischen Partnerländern bedeutet dies, dass eine Entspannung zu erwarten ist. Starmer hat bereits durchblicken lassen, dass er bei der Verteidigung eine stärkere Kooperation anstrebt. Auch soll der Handel mit Tierprodukten vereinfacht werden, und für Kulturschaffende soll das Reisen weniger bürokratisch werden. Das erste Treffen mit den EU-Regierungschefs steht am 18. Juli an: Dann wird Starmer die Länder der Europäischen Gemeinschaft in England empfangen.
Abgesehen vom Verhältnis zu Europa sind bei der Außenpolitik keine größeren Veränderungen zu erwarten. »In Bezug auf China, die Ukraine und den Rest ist sich die Außenpolitik überraschend ähnlich«, schreibt der Thinktank Chatham House zu den Unterschieden zwischen Labour und den Tories. Ob Starmer den Ruf Großbritanniens in der Welt in der Nach-Brexit-Zeit verbessert, hänge vor allem davon ab, ob er die Probleme im eigenen Land lösen kann – also »die mangelnde Produktivität, das durchwachsene Bildungssystem, das regionale Ungleichgewicht und das marode Gesundheitssystem«.
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