Mathematik: Entdeckt, erfunden oder eingegeben?

Wie die Mathematik zu ihren Theoremen kommt, ist eine Frage der Erkenntnistheorie

  • Rainer Schimming
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Satz des Pythagoras beschreibt die Eigenschaften eines rechtwinkligen Dreiecks.
Der Satz des Pythagoras beschreibt die Eigenschaften eines rechtwinkligen Dreiecks.

Die angeblich spröde und nüchterne Mathematik stiftet lebendigen Nutzen. Ja, man kann durchaus behaupten: Ohne diese Wissenschaft würde die moderne Welt nicht funktionieren. Datenkompression, Verschlüsselung, bildgebende Verfahren der Medizin und Technik, satellitengestützte Navigation, Klimaprognosen sind nur einige Beispiele wichtiger Anwendungen der Höheren Mathematik.

Obwohl Mathematik ein Vorbild an Exaktheit ist, herrscht bei ihrer philosophischen Interpretation Uneinigkeit. Drei große Richtungen zeichnen sich ab; wir nennen sie Empirismus, Rationalismus und Platonismus in Bezug auf die Mathematik und stellen sie hier kurz vor.

Aus Erfahrungen gewonnen?

Der Empirismus zählt die Mathematik zu den Erfahrungswissenschaften. Der Unterschied zu Physik, Chemie, Biologie etwa sei nur graduell; Mathematik treibe die Abstraktion ein Stück weiter voran. Die empiristische Erkenntnistheorie sagt so: Erfahrungen (Beobachtungen, Experimente, Praxis) sind das Rohmaterial für einen Abstraktionsprozess. An dessen Ende stehen ein Naturgesetz, ein anderes allgemeines Gesetz oder ein mathematisches Theorem. Es wird etwas entdeckt, das in der Wirklichkeit im Prinzip schon enthalten ist, aber nicht auf der Hand liegt. Implizite Zusammenhänge werden explizit dargestellt.

Friedrich Engels war von solchem Empirismus überzeugt. In seiner polemischen Schrift »Anti-Dühring« (F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Dietz-Verlag, Berlin 1952, S. 36) schreibt er 1878: »Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgends anders hergekommen als aus der wirklichen Welt (…). Die reine Mathematik hat zum Gegenstand die Raumformen und Quantitätsverhältnisse der wirklichen Welt, also einen sehr realen Stoff. Dass dieser Stoff in einer höchst abstrakten Form erscheint, kann seinen Ursprung aus der Außenwelt nur oberflächlich verdecken.« Nachteilig ist hierbei die Festlegung auf bestimmte Inhalte, denn diese können sich ja ändern. Tatsächlich kamen später neue Gebiete auf, die heute zum Kern der Mathematik gehören und deren Gegenstände weit entfernt von »Zahl und Figur« sind – wir nennen Mengenlehre, Topologie, Kategorientheorie.

Schöpfung des menschlichen Geistes?

Der Rationalismus hält die Mathematik für eine Verstandesübung, die nicht auf Bezüge zur äußeren Wirklichkeit angewiesen ist. Sie verordnet sich selbst dabei strenge interne Regeln und hält sich an diese; das macht den Unterschied zu anderen Denkformen aus. Mathematische Theorien sind demnach mit strikten Regelwerken ausgestattete Schöpfungen des menschlichen Geistes. Ein Theorem wird nicht entdeckt, sondern – in einem Kontext – erfunden. Mathematik hat viel mit Strategiespielen wie zum Beispiel Schach und Go gemeinsam. Hermann Hesse hatte bei seinem Gedicht »Das Glasperlenspiel« in seinem bekannten gleichnamigen Roman vermutlich die Mathematik im Sinn. (Vielleicht dachte er an eine zukünftige Variante.) Die Analogie zwischen Mathematikbetrieb und Spielbetrieb reicht bis zu psychosozialen und ästhetischen Aspekten. Mathematiker werden nämlich von mentalen Herausforderungen angezogen, und sie streben nach möglichst eleganter Durchführung. Die Analogie endet darin, dass ein Spiel zusätzlich zur Denkarbeit auch eine materielle Seite hat – ein Spielbrett, Spielfiguren oder dergleichen.

Die obige Bestimmung ist ausdrücklich inhaltlich offen. Eine Variante des Rationalismus, genannt Strukturalismus, geht weiter und weist der Mathematik einen Gegenstand zu: Sie sei die Wissenschaft von den denkmöglichen Strukturen. »Denkmöglich« meint im Denken angesiedelt und in sich widerspruchsfrei. »Struktur« wird dabei abstrakt verstanden; von allen Realisierungen beziehungsweise Begleitumständen sei abgesehen. »Struktur« kann innermathematisch definiert werden; Elemente, Relationen und Operationen sind Zutaten der Definition. Als Strukturalismus hat der Rationalismus die Didaktik der Mathematik beeinflusst. Das große Lehrwerk des Autorenkollektivs Bourbaki ist eine Durchführung des Strukturalismus.

»Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.«

Albert Einstein Physiker

Albert Einstein hat nachdrücklich für den Rationalismus argumentiert. In seinem Festvortrag und Artikel »Geometrie und Erfahrung« (A. Einstein: Geometrie und Erfahrung. Sitzungsberichte Preuss. AdW. Febr. 1921) meint er: »Die Mathematik genießt vor allen anderen Wissenschaften aus einem Grunde ein besonderes Ansehen: Ihre Sätze sind absolut sicher und unbestreitbar (…). Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.«

Die Nützlichkeit der Mathematik

Mit dem Titel »The unreasonable effectiveness of mathematics« ist eine 1959 gehaltene Rede von Eugene Wigner überschrieben; das 1960 erschienene Paper dazu wird oft zitiert. Der berühmte Physiker Wigner lenkt die Aufmerksamkeit auf das Anwendungsproblem; er löst es nicht. »Die Nützlichkeit der Mathematik verstehen wir nicht und wir haben sie nicht verdient«, schreibt er sinngemäß.

Ein moderater Rationalismus räumt ein, dass das mathematische Denken durchaus von außen – von der Wirklichkeit oder durch einen anderen Denkbereich – angeregt werden kann. Aber nach jeder solchen Initiative schließt sich das Fenster und die Anregung wird dann eben mathematisch bearbeitet. Immerhin ist diese Art von Öffnung eine der Erklärungen für die unbestreitbare Anwendbarkeit der Mathematik. Denn was von wirklichen Phänomenen ausging, findet wohl auch dahin zurück. Eine andere Erklärung potenziellen Nutzens ist ein Auswahleffekt: Die Mathematik produziert spielerisch viele mögliche Strukturen. Ungeplant erweisen sich manche davon als Treffer, das heißt als praktisch anwendbar; diese bekommen natürlich erhöhte Aufmerksamkeit. Schließlich gibt es noch ein ontologisches Argument (Ontologie = Seinslehre): Das menschliche Gehirn ist letztlich von dieser Welt. Obwohl das Denken prinzipiell frei ist, bleibt es von sich aus relativ bodenständig, enfernt sich nicht zu weit von dieser unserer Welt. Wir meinen, dass die drei Gründe zusammengenommen das Anwendungsproblem lösen.

Ein fiktives Gespräch zwischen Philosophen

Fiktive niveauvolle Gespräche waren früher eine beliebte Form des Philosophierens. Wir nehmen hier einen bekannten mathematischen Satz und lassen einen Empiristen (E) und einen Rationalisten (R) dazu Stellung nehmen. Das letzte Wort soll ein Platonist (P) haben. 
Der Satz des Pythagoras besagt: Seien a, b die Längen der Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks und sei c die Länge der Hypotenuse. Es gilt a² + b² = c².
E:  Erfahrungen an realen Dreiecken führten auf den Satz. Umgekehrt bewährt er sich immer wieder mit sehr zufriedenstellender Genauigkeit in der Praxis.
R:  Kein reales Dreieck hat einen Innenwinkel von ganz genau 90 Grad. Überhaupt sind absolut exakte Maßzahlen von Winkeln und Längen eine Illusion, allein schon wegen des atomaren Aufbaus der Materie. Der »Pythagoras« gilt für ideale rechtwinklige Dreiecke. Ein solches ist ein Gedankending, und der Satz ist Ergebnis geistiger Anstrengung. 
E:  Der Begriff des idealen Dreiecks wurde durch reale Dreiecke angeregt. Kleine Abweichungen der wirklichen Dreiecke vom Ideal spielen praktisch keine Rolle.
R:  Ja, zugegeben. Aber die Anregung setzt nur das Denken in Gang und wird dann nicht mehr gebraucht.
P:  Die Abfolge in der Erkenntnis ist gerade umgekehrt. Das ideale Dreieck war zuerst da. Das Ideengebäude der Geometrie war schon immer da. Rainer Schimming

Eine Gabe des Himmels?

Wir resümieren: Laut Empirismus wird eine mathematische Idee mit einem gewissen Aufwand der Wirklichkeit abgerungen. Laut Rationalismus wird dagegen die Idee zwanglos vom menschlichen Geist hervorgebracht. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit – die Idee existiert schon längst in Reinform »irgendwo da draußen« und wird durch das erkennende Subjekt »nach hier unten« geholt. Diese Ansicht geht auf Platon zurück. Der Platonismus hält die Mathematik für Teilhabe am Reich der absoluten Ideen. Ein solches Jenseits existiere unabhängig vom Diesseits, das heißt der sichtbaren Welt, und sei letzterer vorgeordnet. Die absoluten Ideen oder ewigen Wahrheiten sind unveränderlich und vollkommen. Die sichtbaren Dinge und Ereignisse sind unvollkommene Nachahmungen der idealen Urbilder. Die Mathematik nun eröffnet einen priveligierten Zugang zu Platons Ideenreich. Tatsächlich hat der forschende Mathematiker oft das Gefühl, einer Wahrheit auf die Spur zu kommen, die »da draußen« darauf wartet, entdeckt zu werden. Bei Erfolg vermeint der Forscher, an etwas Höherem teilzuhaben. Freilich ist der Seinsstatus der absoluten Ideen außerhalb des Menschen unklar. Der Platonismus ist übrigens nicht nur ein historisches Phänomen. Es gibt Platonisten bis heute. Der vielseitige Denker Roger Penrose ist der bekannteste.

Prof. Dr. Rainer Schimming hat an der Universität Greifswald Mathematik gelehrt und auf den Gebieten Mathematische Physik, Differentialgeometrie und Mathematische Biologie geforscht. Seit seiner Pensionierung 2010 hat er sich der Philosophie zugewandt.

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