Fünf von wie vielen Polizei-Opfern?

Lückenhafte Regierungsinformationen zu unaufgearbeiteter Seite des »Deutschen Herbstes«

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 3 Min.
34 Tote gehen auf das Konto der RAF. Die Namen der Opfer wurden kürzlich bei der Gedenkveranstaltung anlässlich des 30. Jahrestages der Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer in Erinnerung gerufen. Aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet sind jedoch die Opfer, die bei den Fahndungen durch Polizeischüsse starben. Auf eine Anfrage der Linksfraktion antwortete die Bundesregierung lückenhaft.

Peter Altmaier, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, nannte sieben Mitglieder oder mutmaßliche Mitglieder der RAF, die durch Polizeischüsse getötet wurden: Petra Schelm, Georg von Rauch, Thomas Weissbecker, Willy Peter Stoll, Michael Knoll, Elisabeth von Dyck und Horst-Ludwig Meyer. Werner Sauber, der 1975 bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde, fehlt in dieser Aufzählung. Dass der Name von Wolfgang Grams ebenso unerwähnt bleibt, überrascht weniger: Sein Tod am Ende eines GSG-9-Einsatzes 1993 in Bad Kleinen wurde vom Bonner Landgericht zwar als »nicht aufklärbar« beurteilt, gilt nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Schwerin aber als Selbsttötung, um einer Verhaftung zu entgehen.

Die fünf unbeteiligten Dritten, die nach Auskunft der Bundesregierung durch Polizisten erschossen wurden, bleiben in der Antwort an die Abgeordneten Jan Korte und Petra Pau (Linksfraktion) namenlos. Aus Jahreszahl und Ort ist jedoch zu schließen, dass es sich um Richard Epple, Ian McLeod, Günter Jendrian, Helmut Schlaudraff und Manfred Perder handelt. Sie starben, weil sie sich bei Kontrollen verdächtig verhalten haben sollen.

Staatssekretär Altmaier räumt ein, dass »nicht alle Fälle eines Schusswaffengebrauchs« in die Auflistung eingeflossen sind und diese »nicht als abschließend angesehen werden kann«. Grund sei der Aktenumfang zum Thema RAF, die Bundesregierung habe sich deshalb auf »vorhandene, zusammenfassende Darstellungen« gestützt, die sie aber nicht konkret benennt.

Es ist schon verwunderlich, dass der Regierung offenbar keine zitierbaren amtseigenen Quellen zur Verfügung stehen. Immerhin handelt es sich um Opfer, für die der Staat Verantwortung trägt, deren genaue Zahl und Namen ihn aber nicht besonders zu interessieren scheinen.

Bereits Ende 1978 wurde dem »Russell-Tribunal gegen Repression in der Bundesrepublik« eine Dokumentation vorgelegt, in der für die Jahre 1971 bis 1978 über 80 Menschen genannt sind, die durch Polizeikugeln starben. Ausschlag gebend für die Todesschüsse war dabei zumeist eine Verfolgungssituation, in der die Polizisten sich vor dem Hintergrund allgemeiner Terrorismus-Hysterie angeblich in einer Art permanenten »Notwehr« befanden. So etwa, als am 9. November 1971 Gerhard Arnold Finnendahl in der Nähe von Sinsheim erschossen wurde: Er hatte mit einem gestohlenen LKW eine Polizeikontrolle missachtet, war zu Fuß weitergeflohen und wurde schließlich mit einem Kopfschuss niedergestreckt. Die Polizei rechtfertigte sich mit Notwehr, da Finnendahl einen pistolen-ähnlichen Gegenstand aus der Hosentasche gezogen hätte. Die »Frankfurter Rundschau« berichtete damals: »Der ›Gegenstand‹, den die Polizeibeamten für eine Pistole gehalten hatten, konnte nicht gefunden werden.«

Dieser Fall ist dem des Mechaniker-Lehrlings Richard Epple, der am 1. März 1972 in Herrenberg-Affstätt ebenfalls bei einer missachteten Polizeikontrolle erschossen wurde, nicht unähnlich. Warum das BMI einige Fälle in seine Auflistung »einfließen« lässt, andere aber nicht, ist nicht erkennbar.

Die Geschichte des »Deutschen Herbstes« ungeschönt auch auf staatlicher Seite aufzuarbeiten, würde wohl zwangsläufig das Eingeständnis zur Folge haben, dass seinerzeit zwei Seiten innergesellschaftlichen Krieg führten, nicht nur eine. Und dass der Staat sich in jener Zeit viele Instrumente schuf, die er auch weit über die Bekämpfung des Terrorismus hinaus bis heute einsetzt. Der gezielte Todesschuss, inzwischen in den Polizeigesetzen von zwölf Bundesländern (außer Berlin, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen) verankert, ist eines davon. Kritiker bezeichnen ihn als außergerichtliche Todesstrafe, bei denen die Vollstrecker in der Regel keine Sanktionen befürchten müssen.

Das Institut für Bürgerrechte und Öffentliche Sicherheit CILIP hat vor rund 30 Jahren damit begonnen, alle ihm durch Presseauswertung bekannt gewordenen Fälle polizeilicher Todesschüsse zu erfassen. Auf dem CILIP-Material basierende Statistiken nennen rund 400 Fälle in den vergangenen 30 Jahren – monatlich ein Opfer.

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