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  • Kalter Krieg in der Karibik

Der Untote der Revolution

Grenadas Premierminister Maurice Bishop wurde 1983 umgebracht. Viele Umstände seines Todes sind noch ungeklärt. Eine Spurensuche auf der Karibikinsel

  • Tom Mustroph, St. George’s
  • Lesedauer: 8 Min.
Maurice Bishop besucht im Juli 1983 Kubas Staatschef Fidel Castro in Havanna.
Maurice Bishop besucht im Juli 1983 Kubas Staatschef Fidel Castro in Havanna.

Eine schmale Straße windet sich den Hang über dem malerischen alten Hafen von Grenadas Hauptstadt St. George’s hoch. An den Türen der im Kolonialstil erbauten zweistöckigen Häuser Schilder von Anwaltskanzleien. Auch die Ermittlungsabteilung der Polizei hat hier ihren Sitz – inklusive Aktenarchiv. Zu dem Todesfall, der mich interessiert, liege hier aber nichts vor, erklärt man mir.

Es handelt sich auch nicht um einen klassischen Mordfall. Er liegt bereits Jahrzehnte zurück. Die Todesumstände sind auch aufgeklärt: Am Nachmittag des 19. Oktober 1983 feuerte ein vierköpfiges Erschießungskommando unter der Leitung von Callistus Bernard aus seinen Maschinenpistolen und tötete den damaligen Premierminister Maurice Bishop und sieben seiner Anhänger. Eine Woche später sorgte eine US-Invasion unter Präsident Ronald Reagan, der kommunistische Einflüsse in der amerikanischen Einflusssphäre bekämpfte, endgültig dafür, dass die rebellische Insel mit ihren rund 100 000 Einwohnern auf den kapitalistischen Pfad zurückkehrte. Das war das Ende der Revolution von Grenada, die 1979 begonnen hatte, als Bishop und seine Bewegung mit einem unblutigen Putsch die Macht übernahmen.

Unter Bishop, der mit seiner marxistischen Bewegung New Jewel Movement regierte, wurden Banken verstaatlicht, Alphabetisierungskampagnen ins Leben gerufen und kostenfreie Arztbesuche garantiert. In einer Rede in New York vor mehrheitlich schwarzem Publikum hatte sich Bishop selbst gerühmt und seine Brüder und Schwestern im Herzland des Kapitalismus aufgefordert, ebenfalls revolutionär tätig zu werden. Das war im Juni 1983, vier Monate vor der Invasion.

Amerikanische Soldaten bergen verkohlte Leichenreste in Calivigny im Süden der Insel.
Amerikanische Soldaten bergen verkohlte Leichenreste in Calivigny im Süden der Insel.

Exekutiert wurde Bishop allerdings auf Anweisung politischer Gegenspieler in den eigenen Reihen um seinen Vize-Premierminister Bernard Coard und General Hudson Austin, den Kommandeur der Streitkräfte. Ein ungelöstes Rätsel bis heute ist, was mit seiner Leiche geschah. Den Angehörigen wurde sie niemals übergeben. Das Grab ist leer, wie auch der mehrstündige Podcast der Washington Post »The Empty Grave of Comrade Bishop« bereits im Titel aussagt.

Ein Waffenmeister erinnert sich

Ein Mann, der schräg gegenüber vom Hauptsitz der Kriminalpolizei arbeitet, kann aber etwas Licht ins Dunkel bringen: Mandley Philip war 1983 Soldat in der Revolutionsarmee. Er war Waffenmeister, ausgebildet unter anderem in Kuba und der Sowjetunion, wie er erzählt. Er war am 19. Oktober auch auf Fort Rupert, als dort die Exekution erfolgte, und wurde in der Nacht dazu abkommandiert, die Leichen verschwinden zu lassen.

Jetzt leitet er eine Reparaturwerkstatt für Elektrogeräte. Tritt man von der Straße herein, sieht man mehrere Männer an Werkbänken arbeiten. Motoren sind aufgeschraubt. Es riecht nach Lötarbeiten. Akkuschrauber surren. In seinem kleinen Chefzimmer taucht Philip dann aber wieder tief in die Vergangenheit ein.

Am Morgen der Exekution war er zunächst noch in Bishops Wohnhaus. »Maurice stand damals unter Hausarrest.« Einige Tage zuvor, am 14. Oktober, war er als Premierminister abgesetzt worden. »Wir erhielten den Befehl, dorthin zu fahren. Sein Haus war aber leer. Nur Bernard Coard war da«, erinnert er sich. Coard war der Gegenspieler von Bishop. Früher waren die beiden enge Freunde gewesen, wurden Premierminister und Vizepremier. Noch im Oktober 1983 wohnten sie Tür an Tür. Coard setzte in einem Machtkampf im Revolutionskomitee aber das Todesurteil gegen Bishop durch.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Philip davon noch nichts. »Aber man spürte schon, dass etwas in der Luft lag.« Mehrere Tausend Anhänger von Bishop holten ihr Idol aus dem Hausarrest und begleiteten ihn ins Zentrum der Hauptstadt. Sie wollten den Staatsstreich nicht hinnehmen. »Maurice sollte auf einem öffentlichen Platz in St. George’s eine Rede halten. Aber auf dem Weg dorthin, das erzählte mir zehn Jahre später eine Frau, wurde er von einem jungen Mann von dem Lastwagen, auf dem er saß, heruntergebeten. Er ging dann zu einem Auto. Und statt zum Marktplatz zu fahren und seine Rede zu halten, änderte er seine Pläne und fuhr zu Fort Rupert.«

Das Vorspiel der Exekution

Auf dem Weg hoch zum Fort, das jetzt wieder seinen alten kolonialen Namen Fort George – nach einem der englischen Könige – trägt, kommt man an zwei Steintafeln vorbei, die an einer Wand angebracht sind. Sie sollen an Maurice Bishop und die anderen Erschossenen erinnern. Jetzt ist die Einfassung aber leer. »Das Fort wird renoviert, die Tafeln werden auch wieder angebracht«, erzählt der Pförtner des nahen Parkplatzes. Er stellt sich als ein Zeitzeuge heraus, war an jenem 19. Oktober auch auf Fort Rupert. »Wir sind mit Maurice gekommen«, berichtet er. »Dann aber hörten wir Schüsse. Und ich bin über die Felsen schnell nach unten geklettert. Wir hatten alle Todesangst.«

Mandley Philip muss etwas später am Fort angekommen sein. »Die meisten Demonstranten waren da schon weg. Ich sah einige, die sich versteckten. Aber die Armee hatte die Lage unter Kontrolle. Ich erinnere mich auch, dass ich Maurice kommen sah. Er kam eine Treppe herunter.« Wie wirkte Maurice Bishop in dieser Situation auf ihn? »Er war wie immer, eben Maurice«, sagt Philip, und ein nostalgisches Lächeln fliegt über sein Gesicht. Philip ging dann in die Diensträume. »Dort klingelte andauernd das Telefon. Ich dachte, da wird schon irgendjemand von der Kommunikationsabteilung rangehen. Es klingelte aber immer weiter. Also nahm ich schließlich ab.« Vom Anrufer wurde Philip aufgefordert, Callistus Bernard ans Telefon zu holen, den Chef des späteren Erschießungskommandos. In genau diesem Telefonat wurde Bernard aller Wahrscheinlichkeit nach der Todesbefehl übermittelt.

Philip wusste auch das damals noch nicht. »Später aber sah ich die Leichen auf dem Boden liegen und konnte mir ausmalen, was geschehen war. Mir wurde dabei klar, dass die Revolution jetzt zurückgedreht ist. Wie wollten denn die neuen Chefs jetzt weitermachen? Wie das Volk von Maurices Tod und dem der anderen Regierungsmitglieder informieren?« Mit gedämpfter Stimme erzählt der ehemalige Soldat: »Es war die traurigste Sache, die ich jemals gesehen habe – Maurice und die anderen Toten.«

Eine seltsame Frage

Für ihn war die Geschichte damit aber nicht zu Ende. »Ich weiß nicht mehr, wann ich an jenem Tag eingeschlafen bin.« Er unterbricht kurz, bevor er fortfährt: »Aber mitten in der Nacht weckte mich jemand und fragte mich etwas Seltsames. Ob ich wisse, wie man Körper verbrennt.« Als guter Soldat stand er auf. Im Auto fand er sich neben Callistus Bernard wieder, dem Chef des Exekutionskommandos. »Wir haben die ganze Zeit nicht miteinander geredet«, erinnert er sich. Sie fuhren in einem Konvoi aus Lastwagen mit den Leichen und Autos, in denen auch Philip und Bernard waren, durch die dunkle Nacht. »Der Regen prasselte, der Wind war heftig. Wir haben dann an einer Feuerwehrstation ein paar Reifen zum Verbrennen aufgeladen.«

Ziel war ein Militärstützpunkt auf der Halbinsel Calivigny im Süden Grenadas. Für die Verbrennung der Leichen war nichts vorbereitet, erinnert sich Philip. Sein Trupp musste improvisieren, nutzte einen bereits vorhandenen Graben. »Das Seltsame war, dass die Reifen nicht unter, sondern über den Leichen platziert waren. Verbunden mit dem starken Regen war es sehr unwahrscheinlich, dass die Leichen verbrennen würden«, urteilt er rückblickend. Ob Bishop tatsächlich unter den Leichen war, weiß er nicht: »Es war dunkel, man konnte kaum etwas erkennen.« Weil der Konvoi aber am Ort der Exekution startete, ist das wahrscheinlich.

Die Verbrennungsversuche zogen sich über mehrere Tage hin. »Vor drei Jahren sagte mir ein Ex-Soldat, der damals dort stationiert war, dass die Feuer weiterschwelten und dass es auch nach verbrannten Leichen roch«, berichtet Philip.

Sicher ist, dass US-Soldaten während der Invasion halb verbrannte Leichen in Calivigny fanden und in Plastiksäcken abtransportierten. Kriegsreporter fotografierten das. An den Leichenteilen wurde auch eine Autopsie vorgenommen, Bishop dabei aber nicht identifiziert. Weitere Gewebeproben der Leichen wurden nach Aussage von Zeitzeugen zur Identifizierung in die USA geschickt. Auf diesbezügliche Anfragen reagierten die US-Behörden bisher stets mit dem gleichen Wortlaut: Man habe keine Kenntnis über den Verbleib. Der damalige Gouverneur Grenadas, Paul Scoon, erklärte später, ihm hätten US-Militärs berichtet, Bishops Leichnam sei im Meer bestattet worden.

Was zu der Entscheidung der Rivalen Bishops geführt hat, den Leichnam verschwinden zu lassen, ist Mandley Philip bis heute ein Rätsel. »Sie waren doch schon tot. Man hätte die Leichen den Angehörigen übergeben können«, sagt er. Den US-Behörden war möglicherweise die Vorstellung eines Bishop-Grabes als revolutionäre Pilgerstätte ein Dorn im Auge. Bishop hatte seine Attraktivität für die afroamerikanische Linke in den USA in seiner New Yorker Rede im Juni 1983 selbst herausgestellt. Die »Washington Post« legt in ihrem Podcast »The empty Grave of Comrade Bishop« sogar nahe, dass Bishop mit seiner Herausforderung ans weiße Establishment in den USA sein eigenes Todesurteil unterschrieben habe.

Ex-Revolutionssoldat Philip will sich aus solchen Spekulationen heraushalten. Seine Kräfte setzt er inzwischen dafür ein, die einstmals verfeindeten Flügel der Revolution wieder zu versöhnen. Bislang war das allerdings weitgehend erfolglos, gesteht er. Besser laufe es mit seinem privaten Netzwerk, verarmte Revolutionssoldaten zu unterstützen: »Leider kümmert sich von der Regierung niemand darum, obwohl einige frühere Revolutionäre sogar Minister wurden. Aber sie haben ihre Basis vergessen. Wir kümmern uns um etwa 400 Kameraden, besorgen Geldspenden für sie. Einige Ärzte behandeln sie gratis. So gut es geht, übernehmen wir auch die Kosten für eine Beerdigung. Vor einigen Tagen war ich erst auf einer.«

Wenigstens die Fußsoldaten der Revolution haben also ein Grab. Die Familie von Maurice Bishop wartet fast 42 Jahre nach den Todesschüssen noch immer darauf. Immerhin hat es im Land eine erinnerungspolitische Wende gegeben. Nach jahrzehntelangem Verleugnen des Erbes der Revolution erklärte der aktuelle Premierminister Dickon Mitchell vor zwei Jahren den 19. Oktober zum nationalen Heldentag. Jetzt müssen nur noch die sterblichen Überreste gefunden oder zumindest Gewissheit über deren Verbleib erlangt werden. Nicht nur Mandley Philip wäre dann erleichtert.

»Ich sah die Leichen auf dem Boden liegen. Mir wurde dabei klar, dass die Revolution jetzt zurückgedreht ist.«

Mandley Philip Ehemaliger Revolutionssoldat
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