Essstörungen: Doppelte Stigmatisierung

Essstörungen treten seit der Corona-Pandemie bei Männern häufiger auf

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
Unkontrollierbare Essattacken können auch Männer treffen.
Unkontrollierbare Essattacken können auch Männer treffen.

Er war 18, hatte gerade sein Abitur gemacht und schmiedete große Pläne: Reisen unternehmen, jobben. Doch auf einmal kam die Corona-Pandemie und zerstörte die Träume. Statt in der fernen Welt saß der junge Mann daheim, konnte niemanden treffen und blickte einer ungewissen Zukunft entgegen. »Dann hat er angefangen, exzessiv zu trainieren«, berichtet der Psychiater Ulrich Voderholzer. Der Jugendliche brachte es auf bis zu sechs Stunden pro Tag, rutschte in eine Magersucht, verlor über 20 Kilo und musste behandelt werden. »Negative Emotionen, Einsamkeit, Mobbing, Stress können Trigger sein, die eine Essstörung auslösen«, sagt Voderholzer, ärztlicher Leiter der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, die auf die Behandlung von Essstörungen und anderen psychischen Erkrankungen spezialisiert ist.

Dass Jungen und Männer an Magersucht (Anorexia nervosa) leiden, kommt selten vor. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erkranken zwei von 1000 Männern im Laufe ihres Lebens daran – bei Frauen ist die Zahl ungefähr siebenmal so hoch. Auch andere Essstörungen wie Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und die Binge-Eating-Störung (unkontrollierte Essattacken) sind bei Frauen deutlich häufiger. Es gibt in jüngster Zeit allerdings Hinweise, wonach der Anteil betroffener Männer zugenommen hat. »Klar wissenschaftlich belegt ist das allerdings nicht«, sagt Voderholzer.

»Als Mann eine Frauenkrankheit zu haben, ist eine doppelte Stigmatisierung.«

Ulrich Voderholzer Psychiater

Insgesamt ist die Zahl von Jugendlichen, die an Essstörungen leiden, in den vergangenen Jahren in die Höhe geklettert. »Die Corona-Epidemie war dabei ein massiver Trigger«, sagt er. Auch andere Faktoren, darunter Zukunftsängste und unsichere Bindungen, spielten eine Rolle. Daten von Krankenkassen aus den Corona-Jahren zeigen, dass zwar in erster Linie Mädchen und Frauen von Essstörungen betroffen sind, der Anteil junger Männer aber gewachsen ist: Laut einer Datenanalyse der Kaufmännischen Krankenkasse KKH gab es 2020 bei 18- bis 24-jährigen Männern fast 19 Prozent mehr solcher Diagnosen als im Vorjahr. Bei Frauen dieser Altersgruppe habe es nur einen leichten Anstieg von knapp 4 Prozent gegeben. Die Tendenz setzte sich 2021 bei Männern fort, wenn auch weniger stark.

»Ich habe seit Corona definitiv mehr Jungen in Behandlung«, berichtet die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Liane Hammer, Leiterin von Thera Team in München, einer Einrichtung zur ambulanten Therapie von Essstörungen. Auch sie beobachtet, dass bei den Betroffenen oft exzessiver Sport eine große Rolle spielt. Einer der Jugendlichen, die sie behandelt, hatte sich zum Beispiel einen Rucksack mit Büchern gepackt, um härter trainieren zu können.

Dass Jungen und Männer häufig über Sportsucht in eine Essstörung hineingleiten, hängt mit Körperidealen zusammen. Anders als bei Frauen, bei denen Schlanksein oberstes Gebot ist, steht das Ideal vom muskulösen, definierten Körper im Vordergrund. Soziale Medien spielen bei der Verbreitung solcher Ideale eine große Rolle. »Sie schaffen ein Bewusstsein, das dazu beiträgt, dass Essstörungen entstehen«, sagt Hammer.

Landläufig gelten Essstörungen immer noch als reine Frauenkrankheit. Genau das führt dazu, dass Jungen und Männer oft erst spät eine Diagnose bekommen und es wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt. Grundsätzlich tun sich Männer schwer damit, Hilfe zu suchen, wie Voderholzer betont.

Bei Essstörungen ist die Situation noch komplizierter: »Eine psychische Krankheit zu haben, ist ohnehin ein Stigma«, sagt Psychiater Voderholzer. »Als Mann dann noch eine Frauenkrankheit zu haben, ist eine doppelte Stigmatisierung.« Er berichtet von Männern, die jahrzehntelang schwere Essstörungen hatten, ohne zum Arzt zu gehen. Erst über Umwege, etwa über Gastroenterologen, die sie wegen ständiger Magen-Darm-Probleme aufgesucht hatten, kamen sie doch noch in Behandlung.

Unter homo- und bisexuellen Männern sind Essstörungen Studien zufolge häufiger als unter heterosexuellen. »Das Ideal von einem muskulären und schlanken Körper spielt in der homosexuellen Szene eine größere Rolle«, sagt Voderholzer.

Ein großes Thema sind Essstörungen offenbar im Profisport: Eine Literaturrecherche eines Teams um Yannis Karrer von der Universitätsklinik Zürich ergab 2020, dass krankhafte Essgewohnheiten unter Elitesportlern wesentlich stärker verbreitet sind als in der Allgemeinbevölkerung. Vor allem in »gewichtssensiblen« Sportarten – etwa Skispringen, Tanzen und Turnen – ist das Risiko erhöht.

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»Die vorhandene Literatur weist auf eine hohe Prävalenz von gestörtem Essverhalten und Essstörungen bei männlichen Spitzensportlern hin«, schreiben die Autoren und verweisen gleichzeitig auf große Forschungslücken in diesem Bereich. Ein Beispiel dafür ist der Schweizer Skispringer Dominik Peter, der seine Karriere vergangenes Jahr mit nur 22 Jahren wegen einer langjährigen Essstörung für beendet erklärte. Aus dem ständigen Zwang heraus, das Gewicht zu minimieren, bekam er unkontrollierbare Essattacken – vertilgte laut Medienberichten etwa drei Tiefkühlpizzen samt Süßigkeiten auf einmal und hatte danach Gewissensbisse.

Solche Essattacken können Zeichen einer Bulimie, aber auch einer Binge-Eating-Störung sein: Dieses Phänomen kommt bei Männern wesentlich häufiger vor als Magersucht und Bulimie. Dabei verschlingen die Betroffenen anfallsartig große Mengen an Nahrungsmitteln, um negative Gefühle zu bewältigen, und entwickeln in vielen Fällen Übergewicht.

Vor allem Teenager zeigen häufig sonderbare Essgewohnheiten – an einem Tag essen sie wenig, verputzen am nächsten Berge von Fastfood. Wann müssen sich Eltern und Freunde Sorgen machen? »Man sollte beobachten: Verändert sich der Jugendliche? Zieht er sich zum Beispiel zurück?«, sagt Liane Hammer. »Oder treibt er in überzogener Weise Sport?«

Grundsätzlich sei es immer wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern im Gespräch bleiben. Bei Unsicherheiten und Auffälligkeiten sollte man sich trauen, sie anzusprechen, und im Zweifelsfall Hilfe bei einer Beratungsstelle für Essstörungen suchen. Voderholzer sagt: »Man sollte den Mut zusammennehmen, etwas zu sagen. Wie oft habe ich erlebt, dass jeder wegschaut.« In extremen Fällen säßen dann Menschen vor ihm, die bis zum Skelett abgemagert seien. »Und keiner hat reagiert.«

Bei der Therapie von Essstörungen gibt es wenig geschlechtsspezifische Unterschiede. Je nach Form und Schwere kann eine ambulante oder stationäre Behandlung helfen, zu der unter anderem eine Psychotherapie gehört. Weil Männer andere Ideale von sich haben, fällt die »Körperbildtherapie« anders aus, die helfen soll, die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers zu verändern. »Essstörungen sind heilbar, aber es ist ein langer Weg«, sagt Hammer. »Je früher man beginnt, desto besser sind die Aussichten.«

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